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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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Ewigkeit weiterleben werde, so, wie er es verdient habe, und alles, was hier geschieht, durch den Beton verfolgen und, weil er ein geliebtes Menschenkind Gottes war, Defekte, die er sieht, bestimmt auch dem Allmächtigen mitteilen werde und dass deswegen ein jeder sich in Acht nehmen müsse – in einer Ansprache, die sämtliche Variationen der Stilkunde beinhaltete, unter anderem Analogie, Personifikation, Paradoxon, Allegorie und besonders: Übertreibung. Diese Rede zerstreute auch die letzten Zweifel einiger weniger Bewohner des Viertels, die sich vorher gefragt hatten, ob es denn wirklich klug war, Cevdet so hoch über ihren Köpfen aufzustellen. Jeder gab sich begeistert und aus ganzem Herzen der Zeremonie hin.
    In Begleitung der kräftigsten Tamburinschläge wurde Cevdet seine Decke abgenommen und ein Doppeljoint zwischen die Finger seiner Hand geklemmt, die auf der Suche nach einem Halt hochgestreckt war. Jeder nahm einen tiefen Zug. Sie beteten alle zusammen für den Frieden der Seele Cevdets.
    Dieses Mal ließ sich keiner gehen. Keine Trinkgelage bis zum Gehtnichtmehr und dann nicht mehr wissen, wo der Kopf steht. Sie spielten ein paar schwermütige Romalieder und gingen wieder traurigen Schrittes auseinander.
    Am Ende blieben nur Safiye, Yunus und Güldane bei Cevdet. Sie zitterten.
    Mit vom Weinen geschwollenen Augen schaute Safiye die Kinder an, die jetzt nur noch die ihren waren. »Kommt«, sagte sie. »Wir müssen gehen, was sollen wir sonst tun?«
    Sie gingen zwar nach Hause, aber dort war keine Ruhe mehr zu finden. Selbst die Küchenschaben im Lebensmittelschrank und die Wanzen unter dem Fußboden waren unruhig. Alle zusammen wälzten sie sich von rechts nach links, von links nach rechts.
    Aber in jener Nacht war es Güldane, die sich in ihrem Bett am meisten wälzte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, stand auf und ging hinaus. Sie ließ sich vor der Tür nieder. Von dort aus konnte sie das Denkmal ihres Vaters sehen. Cevdets Hand zeigte hinauf auf den Vollmond.
    Alles Schluchzen und alle Tränen, die sich in ihr aufgestaut hatten, seitdem sie den Müll hinausgetragen hatte, quollen endlich aus ihr heraus. Bis der Mond unterging und der Tag dämmerte, saß sie dort und weinte und weinte und weinte. Und niemand hörte sie.

Der blinde Punkt
    Es war Halils fünfunddreißigster Geburtstag. Die Nacht zuvor hatte er Dienst gehabt. Er war kreuz und quer durch Istanbul gefahren und erst gegen Morgen heimgekehrt, war um die Mittagszeit aufgestanden und hatte sich Tee gekocht, in dem Kessel aus Aluminium, dessen Boden ordentlich verbrannt war, weil er ihn schon so oft auf dem Herd vergessen hatte. Mit einem schlanken Glas voll pechschwarzem Tee saß er nun am Fenster. Draußen flogen Schneeflocken. Wie verzaubert sah Halil zu, wie sie auf den Boden sanken. Der Regen war anders als der Schnee, er fiel schnell auf die Erde, wie Tränen. Aber der Schnee war echt seltsam. Es gab Flocken, die so unentschlossen waren, dass sie manchmal wieder hochflogen, als wollten sie zurück zum Himmel.
    Er versuchte, sich eine Flocke auszusuchen und mit den Augen zu verfolgen, bis es sie nicht mehr gab. Doch das Flöckchen, dem er nachsah, mischte sich nach wenigen Sekunden unter die anderen und Halil konnte nie sicher sein, ob das gerade auf den Boden sinkende das seine war oder nicht. Er öffnete das Fenster, streckte die Hand hinaus und beobachtete, wie der Schnee auf seinem Handteller verschwand.
    Da bemerkte Halil die Haut seiner Hand. Oder eigentlich: die kleinen braunen Flecke, die es dort früher nicht gab. Sie erinnerten ihn an seinen Vater. Auf dessen Händen waren hunderte von diesen kleinen heimtückischen Dingern, ein unvermeidbares Zeichen des Alterns. Auf Halils Haut fielen bislang nur einer oder zwei auf; nein, stimmt nicht, fünf oder sechs … Aber es gab sie! Diese Flecke, die vorher nicht da waren, waren jetzt da. Halil versuchte, den einen oder anderen mit dem Fingernagel abzukratzen, aber es war aussichtslos. Sie würden nicht mehr verschwinden. Im Gegenteil, sie würden sich immer weiter vermehren. Bitte schön: das Geschenk des fünfunddreißigsten Lebensjahres!
    War er etwa wirklich an der Hälfte des Weges angekommen? Sein dichtes schwarzes Haar war noch nicht ausgefallen, aber die grauen Haare an den Schläfen waren auch nicht gerade zu übersehen. Er riss einige heraus. Natürlich war das ein ebenso aussichtsloses Unterfangen. Er wusste nicht, konnte nicht sicher sein, ob die Falten auf seiner

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