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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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Stirn viel tiefer geworden waren, aber unter den Augen bildeten sich allmählich Tränensäcke. Auch die Linien an den Mundwinkeln waren markanter als früher. Seine Haut schien den Gesetzen der Erdanziehung zu gehorchen und sich nach unten zu bewegen. Er nahm sein Gesicht zwischen die Hände, spannte seine Haut zu beiden Seiten an und ließ sie wieder los. Spannte sie an und ließ sie wieder los.
    Mit den Händen auf seinem Gesicht machte Halil eine seltsame Entdeckung: Seit langer, sehr langer Zeit hatte ihn niemand berührt. Er selbst hatte auch niemanden berührt. Noch vor fünf oder sechs Jahren hätte er diesen Umstand gar nicht ernstgenommen, womöglich sogar nicht einmal bemerkt. Wahrscheinlich wurde die Einsamkeit größer und bodenloser, je länger sie andauerte. Schon so lange Zeit keine Berührung mit einer anderen Haut erlebt zu haben, machte bitter. Halil verspürte den Wunsch, jemanden zu umarmen, den Wunsch, dass ihn jemand umarmt. Seinen Kopf streichelt, sein Gesicht, seinen Körper küsst, ihm die Bitterkeit nimmt. Den Wunsch, Trost zu finden. Nur gab es niemanden, den er hätte anrufen können.
    Aber Halil war kein Mann, der sich mit der Ausweglosigkeit abfinden konnte. Er dachte daran, Müge anzurufen. Das würde allerdings eine ziemlich langwierige Geschichte werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde sich Müge zieren, von ihm erwarten, dass er ihr Herz erweicht, und ihn vielleicht sogar abblitzen lassen. Seit jenem Abend hatte sie gar nicht mehr angerufen. Sie musste also beleidigt sein. Und Halil hatte weder die Kraft noch die Zeit, sich um Müge zu bemühen.
    Schließlich fand er eine Lösung, die schneller war und zudem sicher und verlässlich. Er rief einen Kollegen vom Taxistand an, der sich gern vergnügte. Er bat ihn, ein russisches Mädchen vorbeizuschicken. Es durfte ruhig etwas kosten, Hauptsache, sie war nicht über fünfundzwanzig. Und bitte ansehnlich. Dann ging er ins Bad, duschte, rasierte sich und begann geduldig zu warten.
    Seine Bestellung kam zehn Minuten später als vereinbart. Sie war keine Russin von der Sorte, die Halil erwartet hätte: lange Beine, langes blondes Haar, sehr helle Haut, blaue Augen. Sie war mittelgroß, was eigentlich passte, weil Halil auch nicht besonders groß war, hatte braune Augen und rotbraunes Haar. Nichts an ihr war auffallend schön. Im ersten Moment bedachte Halil im Stillen den Kollegen mit einem deftigen Schimpfwort, aber dann, als er die Frau anschaute, während sie sich vorbereitete, gefiel ihm, was er sah. Sie zog sich mit routinierten Gesten aus und sagte mit starkem Akzent: »Zweihundert Dollar. Im Voraus!«
    »Man hatte mir hundertfünfzig gesagt«, widersprach Halil.
    Sie war so selbstsicher, dass sie nicht einmal kurz zögerte. »Eildienst«, antwortete sie, während sie sich weiter auszog.
    Eildienst! Halil fand den Ausdruck lustig.
    Als die Frau nur noch ihre Unterwäsche anhatte, drehte sie sich um und fragte: »Wo ist das Bett?«
    Halil wies auf die Schlafzimmertür. Sie ging darauf zu und er beobachtete durch die Türöffnung, wie sie die Decke hob und sich in sein Bett legte.
    Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie bis zu Ende auf. Von der Frau war kein Laut zu vernehmen. Er drückte die Kippe aus und ging ins Schlafzimmer. Schloss die Tür, zog die dunklen Vorhänge zu und machte den Tag zur Nacht. Er zog sich aus und legte sich zu ihr.
    Halil hatte sein Leben damit zugebracht, Sex mit Prostituierten zu haben. So, wie sie es gewohnt waren, als Prostituierte zu arbeiten, war auch Halil gewohnt, mit ihnen zu schlafen. Er fragte sie nicht nach ihrem Namen. Er führte keine unnötigen Unterhaltungen. In ihrem Privatleben bohrte er auf keinen Fall herum. Wenn er etwas Bestimmtes wollte, sagte er es direkt: »Mach die Beine breit!« »Heb den Arsch hoch!« »Dreh dich um!« Er küsste nicht, er streichelte nicht. Unnötige Liebesspielereien mied er grundsätzlich. Wenn er fertig war, bezahlte er die Mädchen und schickte sie weg. Auf keinen Fall ging er in deren Domizil. Entweder bestellte er sie zu sich nach Hause oder er brachte sie in ein Hotel seiner Wahl. Das war sicherer.
    Bis er ins Bett stieg, glaubte Halil, dass er sich auch jetzt genauso verhalten würde. Aber als er die warme, weiche Haut der Frau berührte, wurde ihm klar, dass sein Bedürfnis viel tiefer lag. Zwar sprach er nicht, er küsste nicht, aber er tat alles, um sich bei ihr beliebt zu machen. Er wollte sie mit jeder einzelnen seiner Zellen berühren,

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