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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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war hilflos wie ein kleines Kaninchen, um das zwei ausgehungerte Füchse kreisen.
    »Sag’s!«
    »Du weißt es!«
    »Sprich!«
    »Ich versenge dich!«
    »Ich bring dich um!«
    »Sag’s!«
    »Ich kenn kein Erbarmen!«
    »Du weißt es!«
    »Sag’s!«
    Schließlich brach Yunus in Tränen aus. Da ließen sie ein wenig von ihm ab. Safiye fing an, liebevoll über den Kopf ihres Sohnes zu streichen.
    »Sag, mein geliebter Kleiner, sag’s. Sag es auch, wenn ihr was Falsches gemacht habt. Guck, das Mädchen ist verschwunden. Und wenn ihr etwas passiert, nur weil du jetzt nichts sagst? Gibt es was Schlimmeres, mein Sohn? Versprochen, wir werden dir nicht böse sein. Wir werden auch nicht deiner Schwester böse sein. Nur, dass dieses Mädchen gesund wieder heimkehrt, mehr will ich nicht. Komm, mein lieber Kleiner, mein schöner lieber Kleiner, sag mir, was du zu sagen hast. Ja? Komm …«
    Und immer so weiter, Yunus’ Kopf an sich drückend und streichelnd, sprach Safiye fünfzehn Minuten lang ohne Pause. Schließlich gab Yunus nach. Die Vorführungen, die sie gemacht hatten, wie er mit dem Tamburin die Leute zusammengetrommelt hatte, wie weit und wie sich Güldane ausgezogen hatte, wer alles zum Gucken gekommen war, wie viel sie verdient hatten, das alles erzählte er Punkt für Punkt.
    Währenddessen streichelte Safiye seinen Kopf weiter, der zwischen ihren Brüsten klemmte, denn sie wollte nicht, dass er schwieg. Als der Bericht zu Ende war, schlug sie ihm so heftig auf den Hinterkopf, dass dem Jungen Sterne vor den Augen tanzten und alle Gehirnzellen aus den Ohren flogen.
    Cevdet hatte sich das Geständnis mit zugekniffenen Augen und fest verschlossenem Mund angehört. Am meisten, aber wirklich am meisten hatte ihn getroffen, dass dieser Trottel von Polizist fast recht behalten hatte. Als Safiye den ersten Schlag verpasste, zog Cevdet seinen Gürtel aus der Hose. Und beide nahmen Yunus in ihre Mitte und prügelten ihn grün und blau.
    Yunus vergaß seine Schuld und schrie aus voller Kehle. Seine Schreie wurden immer mehr zu einem Gebrüll; es tat wirklich sehr weh.
    Da eilten die Bewohner des Viertels zu Hilfe und retteten das Kind vor Mutter und Vater. Yunus flüchtete ins Hinterzimmer. Er schloss die Tür von innen ab.
    »Verpissen soll er sich!«, donnerte Cevdet. »Der ist nicht mehr mein Sohn!«
    Schluchzend verkroch sich Yunus unters Bett. Und Cevdet ließ eine Schimpfkanonade los. Die Ahnen des gesamten Viertels und ihre Großväter und dann auch noch deren Großväter und überhaupt das ganze Geschlecht der Roma bedachte er mit kaum verständlichen Beleidigungen. Dann jagte er alle aus dem Haus.
    Hätte das ein anderer gewagt, es wäre die Hölle los gewesen; innerhalb von zwei Minuten hätten ihn die stolzen Roma niedergestampft und möglichst innerhalb von zwei Tagen hätte er sich am anderen Ende Istanbuls eine Bleibe gesucht, natürlich im günstigsten Fall. Aber Cevdet war nicht irgendwer. All die Jahre hindurch war er es gewesen, der Dope und Shit und Gras und Pot, einfach alles, was berauschte und umnebelte, in das Viertel trug. Er hatte alle versorgt, er war es gewesen, der alle beglückte. Jeder hatte seinen Grund, Cevdet zu achten, denn bei jeder Tüte, die ein jeder in dem kritischsten Moment seines Lebens baute, war Cevdets Hand im Spiel. Und heute war seine Tochter verschollen, sein Herz und seine Seele, sein Augapfel. Wenn er fluchte, dann doch nur, weil er litt. Sie sagten nichts, hörten sich die Beschimpfungen stillschweigend an und zogen sich zurück.
    Nun waren Cevdet und Safiye allein. Auf das Dach des Hauses senkte sich langsam eine Wolke der Schmach nieder.

    Halil gelang es nicht, nach Hause zu fahren. Noch bevor er Unkapanı erreicht hatte, bremste er scharf, kam plötzlich zur Besinnung wie jemand, der aus einem Albtraum erwacht, und erfasste mit Entsetzen die Ausmaße seiner Tat. Er wendete mit quietschenden Reifen, parkte den Wagen vor der alten Galata-Brücke und sprang hinaus.
    Er beugte sich an der Brüstung hinunter, riss die Augen weit auf und erhoffte sogar von dem schwachen Lämpchen seines Feuerzeugs Hilfe, um irgendwo im dunklen Wasser Güldanes Umrisse zu entdecken, konnte aber nichts sehen.
    Während er verzweifelt hin und her lief, fiel platsch! ein Tropfen auf seine Hand; ein dunkelroter Tropfen. Platsch! Dann noch einer. Platsch … platsch … platsch …
    Er befühlte seine Nase. Und da entleerten sich alle Adern seines Hirns in seine Hand.
    Halil stieß einen

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