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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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kräftigen Fluch aus. Er rannte zum Auto, fand einen Lappen, presste ihn gegen die Nasenlöcher und ließ sich auf den Sitz fallen. Er lehnte den Kopf zurück und blieb eine Weile so sitzen.
    Ein leichter Schwindel überkam ihn. Ein ungebetener Taumel … Eine skrupellose Erschöpfung … Aber er wollte auf keinen Fall erbrechen. Auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren. Er wollte gesund und munter, mit erhobenem Haupt wie ein ganzer Kerl heimkehren.
    Halil zog tief Luft ein. Dann sammelte er seine ganze Kraft, jedes einzelne Bröckchen, das ihm noch geblieben war, und startete den Motor. Eine Hand mit dem Lappen an der Nase, die andere auf dem Lenkrad, fuhr er los. Er spürte, wie ein warmer, dünner Faden an seinem Handgelenk und weiter am Unterarm und weiter zum Ellenbogen hinabrann, und sah, dass der nasse Fleck auf seinem Hemd jede Minute ein wenig weiterwuchs.
    Wenn er den Arm senkte, um den Gang zu wechseln, wechselte auch das Blut seine Richtung. Der Schalthebel war glitschig.
    Draußen wurde es heller, aber Halil hatte immer größere Mühe, seine Umgebung zu sehen. Die Einsamkeit auf den Straßen löste sich allmählich auf, der Morgen begann bereits, Müllwagen, Autobusse und Frühaufsteher auszuspucken.
    Alles trieb auf Halil zu.
    Ein greller Scheinwerfer blendete ihn. Als er die Augen schloss, dämmerte er leicht ein. Ein süßer Schlaf zog ihn mit großer Macht zu sich. Ein Vorhang wurde zugezogen, die Lichter verdunkelten sich. Nein, er konnte nicht mehr weiter. Verdunkelten … konnte nicht … dunkel … wei…
    Als Halil wieder aufwachte, war es hell geworden. Er hatte irgendwo auf der Höhe von Tarlabaşı am Straßenrand gehalten. Er war überall blutverschmiert. Auch der Wagen … überall … blutverschmiert. Aber er fühlte sich ein wenig besser. Halil startete den Motor und drückte aufs Gas.
    Gegen sieben kam er zu Hause an und lief schnurstracks ins Badezimmer. Da erblickte er sich selbst: ein entstelltes Gesicht … die Augenränder ganz blau … die Nase schief und angeschwollen … das Blut getrocknet … wieder ausgeströmt … Blut … ausgeströmt … getrocknet … wieder ausgeströmt …
    Und wieder wurde ihm schwindlig.
    Er blieb stehen.
    Wasser!
    Er drehte den Hahn auf.
    Er wusch sich das Gesicht. Er wusch es nochmal … und dann noch einmal. Je mehr er wusch, umso mehr Blut floss in die Kanalisation Istanbuls … getrocknetes Blut … wieder ausgeströmtes … getrocknetes … Blut … ausgeströmt … in die Kanalisation …
    Blut. Er wusch sich das Gesicht … die Nase … seine Hände waren blutig … er wusch sich die Hände … seine Handgelenke waren blutig … er wusch sich die Handgelenke … sein Hemd war blutig …
    Er zog das Hemd aus. Zog sich auch die Hose aus. Zog sich splitternackt aus. Drehte die Dusche auf. Die kalte Dusche. Wusch sich wieder die Nase … wusch sich wieder die Handgelenke … wusch sich die Arme … wusch sich den Körper … wieder und wieder.
    Er zog sich an. Verließ das Bad … der Boden war blutig. Mit dem Handtuch wischte er den Boden … im Bad … im Wohnzimmer … im Flur … die Türschwelle … war blutig. Er wischte ab. Treppen … Eingang … Bürgersteig … Straße. Istanbul blutete.
    Halil wischte alles ab. Jeden Tropfen wischte er ab, jedes Quäntchen. Sich selbst, seine Wohnung, die Gasse, seinen Wagen reinigte er, bis keine Spur übrig blieb, bis sogar der Geruch verschwand.
    Als er fertig war, war er selbst auch fertig. Er legte sich ins Bett. Mit einem Wattebausch in der Nase schlief er ein.

    Der Abend dämmerte. Immer noch keine Spur von Güldane. Die ganze Zeit verließ weder Yunus das Zimmer, noch machte Cevdet den Mund auf. Er saß stumm, mit gesenktem Kopf vor dem Fenster. Safiye weinte leise vor sich hin. Und manchmal blieb sie ganz still. Einmal kochte sie Kaffee; Cevdet wollte ihn nicht. Ein andermal trank sie Wasser. Sie hatte ihre Gedanken nicht beisammen. Sie hingen an Güldane, und ein wenig auch an Yunus. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, stand auf und klopfte sachte an seine Tür.
    »Mach auf«, rief sie, »mach auf … mach auf … mach auf …«
    Wie oft sie auch rief, Yunus öffnete nicht. Wie sehr sie auch daran rüttelte, die Tür blieb zu.
    Irgendwann erhob sich Cevdet von seinem Platz. Schwer zu sagen, ob er das tat, weil er sich tatsächlich Sorgen machte, oder weil er befürchtete, Safiye würde bald zu flehen anfangen, oder vielleicht, weil er wütend war; er schmetterte kurzerhand seinen

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