Der hinkende Rhythmus
mächtigen Körper gegen die Tür, die mit großem Getöse auf den Boden krachte. Safiye witterte Unheil aufkommen und warf sich vor ihren Mann.
Eigentlich wollte sie ihn davon abhalten, auf Yunus loszugehen, aber Yunus war gar nicht da. Nicht einmal sein Atem war im Zimmer. Einen Augenblick lang krampfte sich Safiyes Herz zusammen, doch schon im nächsten Moment entdeckte sie ihren Sohn: unter dem Bett.
Sie packte ihn an den Füßen und zog ihn hervor. Und fast wäre sie bei seinem Anblick in Ohnmacht gefallen. Yunus’ Gesicht war blau angelaufen und aus seinem Mund quollen Würmer hervor.
Cevdet wurde kreidebleich. Safiyes Entsetzensschrei schlug eine Schneise in die Luft. Die Nachbarn kamen erneut angerannt – und fielen aus allen Wolken: Das Kind war verfault und hatte Würmer bekommen.
Die einen stimmten laut Gebete an, andere befanden heimlich, dieses Haus sei verhext, aber niemand hatte eine Erklärung dafür, was wirklich geschehen sein mochte. Manche sagten, Hände weg, es ist bestimmt ansteckend. Manch anderer schlug vor, einen Hodscha zu holen, damit er ein Gebet spreche. Zum Glück fand sich jemand, der klar bei Verstand war.
Sie nahmen den Jungen Huckepack und brachten ihn zur Gesundheitsstation. Mit seinen Würmern im Mund. Niemand bemerkte, dass unter dem Bett eine leere Flasche lag.
Im Gesundheitszentrum wurde Yunus, begleitet von seinem Gezeter, der Magen ausgepumpt. Aus dem anderen Ende des Schlauchs schwemmten Würmer ins Becken, fünf bis zehn, meinten manche, hundert bis zweihundert, sagten andere.
Während Safiye aufgeregt auf und ab lief und sich über das Unglück beklagte, das über sie hereingebrochen war, wartete Cevdet etwas abseits stumm mit gesenktem Kopf. Er wollte niemandem in die Augen sehen. Er wusste nicht, wozu ihn selbst der feinste Spott in einem Blick oder die leiseste Andeutung über seine Tochter auf einer Lippe verleiten würde. Seine mögliche Reaktion wollte er sich nicht einmal vorstellen.
Es dauerte nicht allzu lang, bis Yunus von seinen Würmern befreit und wieder auf die Beine gebracht wurde; seine Farbe wechselte von Gelb in Rosa. Verschämt, erschöpft und misstrauisch blickte er um sich.
Man nahm ihn mit, brachte ihn nach Hause, und alle verstreuten sich erneut, wieder miteinander flüsternd. Der Vater stopfte sich die Ohren vor dem Getuschel. Er schaute nicht auf.
Dieses Mal ließen es Cevdet und Safiye nicht zu, dass Yunus allein blieb. Er saß stumm neben dem Ofen seinen Eltern gegenüber.
Sie warteten.
Eine solche Stille hatte es in diesem Haus wahrscheinlich noch nie gegeben. Bisher hatten nämlich entweder Safiye und Cevdet oder Güldane und Yunus geschrien und getobt. Entweder fluchte Safiye über die ganze Welt, wenn nicht, dann sang sie eben, oder Yunus schlug auf seinem Tamburin herum. Geheule und Gekreische oder Geklatsche und Gelächter, Geräusche hatten nie gefehlt in diesem Haus, aber nie! Und sollten sie doch einmal fehlen, drehte man den Fernseher auf Donnerlautstärke. Doch heute hätte man sogar die Wanzen unter dem Fußboden trippeln hören können, so still war es.
Sie saßen nur da, ohne etwas zu unternehmen. Niemand hatte die Kraft hinauszugehen, Fragen zu stellen, nachzuforschen, die Kraft zu weinen oder zu sprechen; das Einzige, was ihnen blieb, war warten. Hin und wieder seufzte Yunus und manchmal stimmte Safiye ein unerhört leises Weinen an. Cevdet gab keinen Ton von sich, aber in seinem Kopf lärmte es: Tausendundeine Frage stieß ständig mit großem Getöse zusammen. Yunus war, wie die Würmer, die er geschluckt hatte, zusammengekrümmt eingeschlafen.
Als der Abend dämmerte und die Dunkelheit den Tag allmählich ablöste, tippte es kaum hörbar an der Tür. Alle spitzten die Ohren. Safiye wartete nicht auf ein zweites Zeichen. Sie rannte los und machte auf.
Etwas größer als ein durchnässter Straßenhund, aber nicht weniger verdreckt, nicht weniger verwundet, nicht weniger erbärmlich, nicht weniger gerädert stand dort: ihre Tochter.
Safiye zögerte keine Sekunde. Sie hob Güldane hoch und schlug dabei den neugierigen Nachbarn die Tür vor der Nase zu. Das Mädchen war fast ohnmächtig. Yunus sah mit weit aufgerissenen Augen seine Schwester an. Cevdet rührte sich nicht, er war wie versteinert.
Safiye wusch Güldane mit lauwarmem Wasser, trocknete ihr Haar, zog ihr frische Kleider an, wickelte sie in dicke, warme Decken ein und wurde dabei wieder zur alten Safiye. Sie klagte und weinte ununterbrochen, schimpfte
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