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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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wenn es Güldane und Yunus gelang, sie mit großem Einsatz hineinzuzerren und das Fenster zu schließen, drehte sie noch mehr durch und riss sich alles vom Leib. An manchen Tagen aß sie keinen Bissen, dann verschlang sie in einer einzigen Mahlzeit eine Zehntagesration.
    Dieser schwindelerregende Wechsel zwischen Ebbe und Flut währte zum Glück nicht lang. Nach Ablauf eines Monats begriff Safiye, dass sie auf diese Weise nichts erreichen konnte. Während sie sich allmählich beruhigte, begannen auch die Gläubiger, an die Tür zu klopfen.
    Cevdet hatte in seinem ganzen Leben nie eine Sozialversicherung gehabt. Folglich bekam die Familie kein Geld vom Staat. Zudem hatte Cevdet in seinen letzten Tagen alles getrunken und geraucht, was er auftreiben konnte, und zwar immer auf Pump.
    Auf Pump!
    Und wer soll das jetzt zurückpumpen?
    Auch der Krämer und der Metzger, die aus Respekt vor der Trauer einen Monat lang ohne zu murren den Bedarf der Familie gedeckt hatten, reihten sich mit in die Schlange ein, um ihr Geld zu bekommen. Am Ende der Schlange stand natürlich der Hausbesitzer. Der Inhaber dieses Hauses, durch das der Wind pfiff, auch wenn alle Fenster geschlossen waren, dessen Wände wie Kekse zerbröselten, in dessen Holzböden unzählige Käferfamilien herumspazierten und an dessen Wänden nach jedem Regenguss Pilze gediehen, wollte seine Miete haben. Aber es gab nun einmal kein Geld!
    So vergaß Safiye bald ihren Mann und machte sich auf in den Kampf um ihr tägliches Brot. Immer, wenn sich etwas ergab, ging sie putzen, aber weil sie eine ziemlich scharfe Zunge hatte, dauerte es nie besonders lang, bis ihr die Tür gewiesen wurde. An solchen Tagen sah sie auf dem Heimweg zu Cevdet auf, der wie immer auf dem Platz herumstand, und knurrte und tadelte ihn, weil er sie in diese missliche Lage versetzt hatte, weil er so unzeitig unter den Beton gekommen war.
    Und Güldane grollte ihrem Bruder, seitdem sie wusste, dass er dem Vater ihre Vorführungen ausgeplaudert hatte. Yunus lief mit seinem Tamburin unter dem Arm ständig hinter ihr her und schlug immer, wenn sie allein waren, die aufreizendsten Rhythmen für Güldane; trotzdem gelang es ihm nicht, ihr ein Sterbenswörtchen zu entlocken.
    Wortlos, ruhelos, hoffnungslos und reglos saß Güldane einfach da. Und sonst tat sie gar nichts. Nur manchmal, wenn sie die Kraft hatte, wenn sie sich besser fühlte, zog sie los, um Blumen zu verkaufen. Das Geld, das sie damit verdiente, reichte gerade einmal für zwei Suppentöpfe.
    Cevdets Tod, und mehr noch sein Denkmal in der Mitte des Platzes, hatte alle Verhältnisse im Viertel umgekrempelt. So weit, dass manche junge Männer, die früher zur Stammkundschaft gehört hatten, Güldane über Yunus eine Botschaft schickten: »Wo Vater Cevdet dort so steht, soll sie bloß keine Vorstellung machen, sonst brechen wir ihr die Beine!«
    Das berichtete Yunus seiner Schwester, voller Angst vor ihrer Reaktion, doch Güldane schaute ihn aus dem Augenwinkel nur kurz an und zuckte mit den Schultern. Das war für sie nichts als Prahlerei, hatte sie doch ohnehin nicht die Kraft, etwas vorzuführen!
    Wenn Safiye besonders schlechter Laune war, und das kam nicht unbedingt selten vor, machte sie sich über Güldane her, und Mutter und Tochter gerieten in einen Streit, dessen Epilog meistens aus zugeknallten Türen und Fenstern bestand, dessen Hauptspiel mit aus allen Ritzen und Öffnungen des Hauses herausquellendem Gekeife bestritten wurde und dessen Prolog aus einem nichtigen Anlass startete. Safiye beschuldigte Güldane, schlafmützig zu sein, stinkfaul und verantwortungslos und »so groß wie ein Esel, aber zu träge, um einen Heller für die Familie zu verdienen«, Güldane stellte sich taub und schwieg, was Safiye noch wütender machte und dazu verleitete, ihre Tochter hier und da zu rempeln und zu kneifen, wovon auch Yunus seinen Anteil abbekam, wenn er dazwischengehen wollte, bis Güldane schließlich der Kragen platzte und sie losschrie. Oft kam es auch vor, dass Pantoffeln durchs Zimmer flogen, Feuerzangen gegen Wände geschleudert und Kissen auf den Boden geworfen wurden, aber bemerkenswerterweise achteten beide unbewusst darauf, nichts kaputtzuschlagen, nichts zu zertrümmern, keinen bleibenden Schaden zu hinterlassen.
    Diese Streitereien brachen einige Wochen, bevor Safiye die Wahrheit über sich preisgab, ab. Seit einiger Zeit hatte sie wieder angefangen, ihren roten Lippenstift aufzutragen und mindestens drei Knöpfe ihrer

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