Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
Vom Netzwerk:
Parfüm … dieser Blumenduft … wo kam der bloß her?
    Halil verstaute alle Fragen in den entlegensten Regalen seines Gehirns, weil er befürchtete, sich in die Hölle der Ungewissheiten zu verlaufen. Er erzählte niemandem von diesem Vorfall. Und sich selbst gegenüber gab er auch nichts zu.

    Halil war beunruhigt. Diese Unruhe raubte ihm Kraft. Sich so ausgeliefert zu fühlen, widerte ihn an. Er war sehr schweigsam geworden, sprach mit niemandem. Oft dachte er an Güldane. Er spürte den unwiderstehlichen Wunsch, zu erfahren, ob sie noch lebte, aber die Möglichkeit, mit einer bitteren Wahrheit konfrontiert zu werden, hielt ihn davon ab, etwas zu unternehmen. Jedesmal, wenn Halil an Güldane dachte, änderten sich seine Gefühle ihr gegenüber. Manchmal brannte in ihm eine schreckliche Wut und er erstarrte vor Zorn. Und manchmal zitterte er vor Sorge um sie und stöhnte vor zärtlicher Hingabe. An einem Tag versuchte er alles, um sie zu vergessen, seinen Kopf von ihrem Bild zu befreien, und anderntags gab er sich der unbeschreiblichen Lust hin, sich an bestimmte Momente zu erinnern, und ließ diese in Gedanken immer wieder neu aufleben, jedesmal in kräftigeren Farben. Er hing zwischen Wut und Verlangen; verzweifelt pendelte er hin und her.
    Manchmal wurde er von einem furchtbaren Verdacht erschüttert. Die Möglichkeit, dass diese ganzen Ereignisse irgendwie mit Güldane zu tun haben könnten, fraß sich wie ein hinterhältiger Wurm in sein Gehirn. Alle Seltsamkeiten in seinem Leben hatten mit dem Unfall begonnen, den diese Zigeunerin verursacht hatte.
    »Kleine Zigeunerin …«, dachte Halil, »du verdammtes Kind … kleiner, unbändiger Teufel … schwarze Magie, die einem die Sinne raubt … das Schwarze Loch in meinem Kopf!«
    Nur wenn Halil trank, konnte er seine Unruhe ein wenig bändigen. Die kleine Bierschänke hatte er sich zum zweiten Zuhause gemacht. Ein paarmal hatte der Kellner versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, und einige Male hatten es die Stammgäste probiert, doch Halil hatte sich geschützt, indem er entweder einsilbige Antworten gegeben oder geschwiegen hatte. Irgendwann hatten sich alle an ihn gewöhnt. Jetzt bemerkte man nicht einmal mehr, ob er da war oder nicht. Nur die Anzahl seiner Biere blieb von ihm zurück, wenn er ging.
    Nach einem dieser Abende, an denen er sich bis zur Bewusstlosigkeit betrank, kam er um Mitternacht nach Hause. Ohne sich auszuziehen, legte er sich ins Bett und schlief ein.
    Die ganze Nacht hatte er wirre Träume. Er war noch Kind … ging ins Meer … doch plötzlich wurde das Wasser tief, das Ufer rückte in weite Ferne und Halil war jetzt ganz allein. Dann merkte er, dass nicht er das Kind war, das in diesem dunklen Wasser zappelte, sondern Güldane. Güldane sah sich mit stechendem Blick um und wirkte ruhig, sogar bedrohlich. Da packte sie plötzlich eine Hand am Bein und zog sie in die Tiefe. Dann wurde ihm klar, dass die Hand, die Güldane hinunterzerrte, seiner Mutter gehörte. Er sah, wie sich seine Mutter am Strand auszog und in die Sonne legte. Und er war als kleines Kind an ihrer Seite. Seine Mutter schaute aufs Meer und er entfernte sich und setzte sich auf eine Schaukel. Langsam fing er an zu schaukeln. Er wurde schneller, immer schneller. Er flog … über seiner Mutter flog er, über dem Strand, über der Welt … und dann ein unendlicher Fall!
    Als er am Morgen aufwachte, brannte sein Gesicht wie Glut. Er berührte es … Spürte Nässe auf seiner Handfläche. Wie sehr ich geschwitzt habe, dachte er. Doch er irrte sich. Nicht der Schweiß hatte seine Hand genässt, sondern Blut. Erschrocken fuhr er hoch. Auf dem Kissen lagen Blutflecken wie rote Blumen. Als Halil in Panik das Kissen anhob, begriff er, warum: Es war mit Glasscherben gefüllt!

Der Agent
    Seit vier Tagen aßen sie gekochte Kartoffeln. Am ersten Tag hatte es dazu noch Schafskäse und Oliven gegeben. Am zweiten Tag war der Käse aufgebraucht. Und am dritten war die letzte Olive verspeist. Nun saßen sie nur noch zu zweit am Tisch. Sie sprachen nicht miteinander.
    Seit Cevdets Tod waren die Tage voller Trauer. Manchmal schlief Safiye zwei Tage wie eine Tote durch. Dann stand sie auf, öffnete das Fenster, stieß Jammerlaute aus und versetzte alle in Aufruhr. Sie zerriss ihre Kleider, beklagte ihr Unglück und verkündete lauthals, sie sei in diesem jungen Alter mit zwei Kindern als Witwe zurückgeblieben, habe nichts vom Leben gehabt und nun sei auch Cevdet von ihr gegangen. Und

Weitere Kostenlose Bücher