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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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hatte.

    Später dachte Halil oft über diesen Tag nach. Wie die Russin ankommt und fortgeht, wie er sich dann anzieht, fertig macht und hinausgeht, ließ er hundertmal Revue passieren. In keiner dieser Erinnerungen fand er eine Sequenz, in der er den Herd aufdreht. Auch war es völlig ausgeschlossen, dass sonst jemand die Wohnung betreten hatte. Es war nichts geklaut worden, nichts beschädigt. Vielleicht trieb sein Gedächtnis immer noch Spiele mit ihm, obwohl er glaubte, es sei schon geheilt. Oder vielleicht hatte er aus irgendeinem Grund, zum Beispiel aus Unachtsamkeit, die Knöpfe aufgedreht und dabei gemeint, er würde sie alle zudrehen, und später hatte sein Gehirn diesen Augenblick wieder gelöscht …
    Irgendwann hörte Halil auf, ständig darüber nachzudenken. Genauso hatte er auch aufgehört, sich daran zu erinnern, wie er Güldane packt und von der Galata-Brücke ins Wasser wirft. Diese Szene hatte ihn wochenlang in den unpassendsten Augenblicken heimgesucht und in unbeschreibliche, ausgesprochen wirre Gefühle versetzt. Die Wärme des Mädchens hatte lange an seiner Haut gehaftet und ihr Geruch jeden seiner Atemzüge begleitet. Jedesmal, wenn ihm die Nase ziepte, hatte er verzweifelt versucht herauszufinden, was das für eine Regung war, die ihn so hilflos machte, ihn so sehr aus der Fassung brachte, aber jedesmal war er gegen Fragen geprallt, die sich in den unterirdischen Tunneln seines Gedächtnisses angehäuft hatten, und war verlorengegangen. Schließlich hatte er sich gezwungen, jeden Gedanken an diesen Moment zu verjagen. So sehr, dass er nicht einmal erfahren wollte, was mit ihr später geschah, und ihr Viertel nicht mehr betrat. Manchmal kam es vor, dass der Weg seiner Fahrgäste über jene Straße in Etiler führte, wo alles seinen Anfang nahm. Der Rohbau des Einkaufszentrums war so gut wie beendet. Und manchmal fuhr er durch Nişantaşı, dort entlang, wo er sie irgendwann wiedergesehen hatte. Dann konnte er nicht anders als an sie zu denken, doch fand er immer sofort eine Ablenkung. So entfernte sich Halil von dem beunruhigenden Bild Güldanes.
    Da ihm das ja gelungen war, konnte er auch das Geheimnis des Gases, das ihn fast umgebracht hätte und eine immerwährende Sorge verursachte, getrost in den Wind schlagen. Es erfüllte Halil mit Stolz, seine Gedanken so stark beherrschen zu können. Das konnte nicht jeder! Er aber schaffte es. Er schaffte es, an manche Dinge nicht zu denken, wenn er nicht wollte. Die Übungen zur Wiederbelebung seines Gedächtnisses hatten gefruchtet und ihm eine seltene Gabe beschert: Er konnte vergessen!
    Die Straßen Istanbuls, die jederzeit neue Überraschungen boten, machten es ihm auch leichter. Manchmal, wenn er eine reizende Frau im Minirock in Nişantaşı sah, sich hinter Merter in kuriosen Vierteln verlor, wo sich Armut und Kriminalität gegenseitig schulterten, mit dem Fahrer einer Luxuskarosse zankte, der höchstens zwanzig war und ihn in der Bagdad-Straße unverschämt überholte, sich in Levent zwischen jungen Mädchen hindurchschlängelte, die gerade von der Schule kamen und kichernd über den Zebrastreifen liefen, in Eminönü der Flucht eines Sesamringverkäufers folgte, hinter dem Beamte des Ordnungsamts her waren, Vorstadtjugendliche betrachtete, die zur Begrüßung ihre billig gegelten Köpfe aneinanderstießen, während ihnen ihre Hosen entweder jetzt gleich oder im nächsten Moment von ihren Ärschen zu rutschen drohten, über Frauen der High Society lachte, die unbeholfen versuchten, in knappen Röcken aus panzergroßen Jeeps auszusteigen, besoffene Fahrgäste hinausbeförderte, die im Auto erbrachen, Geschäftsleute beobachtete, die mit schwarzen Brillen und in glänzenden Anzügen von einer Beerdigung kamen, dann konnte Halil vergessen. Er konnte seine Sorgen vergessen. Und seine Vergangenheit. Er konnte sich selbst vergessen.

    Nach dem Ende eines Nachtdienstes, bei dem er durch sämtliche melancholischen Gassen der Stadt kreuz und quer gefahren war, spürte Halil, als er gegen Morgen die Wohnung betrat, wieder etwas Seltsames in der Luft; wieder einmal nahm er einen ungewohnten Geruch wahr. Nur roch es diesmal nicht nach Gas oder sonstwie bedrohlich. Sondern eher nach einer Blume … Geißblatt vielleicht oder Jasmin … ein Parfüm … eine Frau … der Duft einer Frau …
    Zuerst dachte Halil an die Russin. Es roch nach ihrem Parfüm. Vielleicht eine Überraschung … hatten ihm seine Freunde eine Überraschung bereitet? Er hatte aber

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