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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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niemandem seinen Schlüssel gegeben, das konnte es also nicht sein. Unruhig ging er hinein.
    »Ist jemand da?«, rief er.
    Dann kam ihm das irrwitzig vor. Natürlich bekam er keine Antwort. Rasch schaute er im Schlafzimmer, im Bad, in der Küche nach. Es war niemand da.
    Er ging ins Wohnzimmer und zündete sich eine Zigarette an. Er atmete durch, versuchte, sich zu beruhigen. Dann stand er wieder auf und ging aufmerksamer durch die Wohnung.
    Da bemerkte er eine Nuance, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Sein Bett war offen, die Decke leicht aufgeklappt, das Laken ein wenig zerknittert. Er erinnerte sich genau, dass er am Abend, bevor er hinausging, sein Bett gemacht hatte. Das war seit Jahren seine feste Gewohnheit. Das tat er immer gleich nach dem Aufstehen, egal was für ein Durcheinander in der Wohnung auch herrschen, wie dreckig es auch sein mochte. Er hatte es nämlich überhaupt nicht gern, sich in ein unordentliches Bett schlafen zu legen. Ja, er hatte sein Bett gemacht. Er konnte sich daran sehr gut erinnern.
    Halil inspizierte aufmerksam seine Schlafstatt und versuchte dem Ganzen einen Sinn zu geben; plötzlich erschrak er. Auf der Kommode neben seinem Kissen stand ein altes Schwarzweißfoto, das ihn mit seiner Mutter zeigte. Mutter und Sohn standen nebeneinander. Halil, damals fünf oder sechs Jahre alt, trug Plastiksandalen. Wahrscheinlich, weil ihn die Sonne blendete, hatte er seine Augen zusammengekniffen. Seine Mutter schaute direkt in die Kamera. Sie lächelte nicht. Sie standen beide einfach da. Wie kam es, dass dieses Foto, das er seit Jahren nicht gesehen hatte, nun neben seinem Kopfende stand?
    Schaudernd lief Halil in der ganzen Wohnung auf und ab, wie ein Hund roch er an jeder Ecke. Um ein Indiz, eine Spur, irgendein Zeichen zu finden, das ihm helfen könnte, diese seltsame Situation zu erklären, drehte er eine Runde nach der anderen. Auf dem Weg zu der Schublade, in der er Geld für schlechte Zeiten aufbewahrte, hätte er fast dafür gebetet, dass es gestohlen wäre. Dann hätte er alles dem Dieb zuschieben können. Er suchte nach einem vernünftigen, glaubwürdigen Grund für das, was er hier sah. Aber sein ganzes Geld, seine Brillen, seine Lederjacke, sein Radio und CD-Player, alles war noch da.
    Die Fotos! Er öffnete den Schuhschrank. In einem alten Schuhkarton lagen die paar Fotografien seit Jahren unberührt da. Wer konnte unter den vielen Kartons ausgerechnet diesen einen gefunden und dieses Bild herausgenommen haben? Warum?
    Halil schleuderte die Fotos weg und suchte jeden Winkel der Wohnung aufs Neue ab. Er prüfte das Türschloss, schaute unters Bett, in die Schränke, in die Schubladen, unter die Teppiche, in die Ritzen der Sessel. Dann prüfte er noch einmal das Türschloss. Noch einmal schaute er unters Bett, in die Schränke, in die Schubladen, unter die Teppiche, in die Ritzen der Sessel. Dann prüfte er noch einmal das Türschloss. Noch einmal schaute er unters Bett, in die Schränke, in die Schubladen …
    Schließlich war er erschöpft. Er ließ sich auf die Couch fallen. Sollte er zur Polizei gehen? Aber was sollte er dort sagen? »Jemand hat sich in mein Bett gelegt und mein Foto mit meiner Mutter an meinem Kopfende aufgestellt«? Da überhaupt keine Spur zu finden und nichts geklaut worden war, würden die Beamten nur über ihn lachen. Oder ihn in eine Nervenklinik schicken.
    Er stand am Rande einer tiefen Verzweiflung. Er holte eine Flasche Rakı aus dem Kühlschrank, um sich daran festzuhalten. Ohne ihn mit Wasser zu verdünnen, ohne etwas zu essen, trank er, so viel er konnte. Bis er sich ganz verlor, bis sich alle Wörter in seinem Gehirn miteinander vertauschten, seine Vergangenheit und Zukunft, seine Ängste und Träume sich gegenseitig aufzehrten. In jener Nacht schaffte er es nicht zu seinem Bett. An einem Rand des Sofas schlummerte er ein.
    In den folgenden Tagen hatte Halil große Schwierigkeiten, sich zu erklären, was da überhaupt geschehen war. Wie sehr hätte er sich gewünscht, an jenem frühen Morgen aus der Kneipe nach Hause gekommen zu sein, in alkoholisierter Wehmut jenes Foto selber herausgekramt zu haben, sich aber nicht mehr daran erinnern zu können, weil er viel zu betrunken gewesen war. Wie sehr hätte er sich gewünscht, dass nur der Alkohol diese Skurrilität verursacht hätte.
    Doch er wusste, dass dem nicht so war. Er war völlig nüchtern, hatte keinen Schluck getrunken. Jenes Foto hatte nicht er auf die Kommode gestellt. Und dann dieses

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