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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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stattgefunden? War Müge verheiratet? Hatte sie das schon einmal erwähnt? Sie hatte nach Güldane gefragt. Hatte sie nach Güldane gefragt? Als Halil von all den Fragen, die wieder losgingen, schwindlig wurde, rettete er sich hinaus, stieg in den Wagen und machte sich auf den Weg.
    Während er in den kurvenreichen, holprigen Straßen Istanbuls herumfuhr, die abschüssigen Gassen auf und ab tuckerte, mal auf Kopfsteinpflaster, mal auf Asphalt rollte und dann die Sackgassen abtastete, sich im wahrsten Sinne des Wortes im Kreis drehte, wurde Halil etwas klar: Es hatte eigentlich überhaupt keinen Sinn, die Ereignisse in eine Reihenfolge setzen und wissen zu wollen, was wirklich war und was Einbildung. Es gab nur eins, das man nicht in Frage stellen konnte, das unabänderlich, unverzichtbar, also absolut war: Er wollte Güldane an seiner Seite, bei sich, in seinem Herzen. Und, wie fabelhaft, das Mädchen war zu ihm gekommen und hatte »Los!«, gesagt, »komm doch mit mir mit …« Selbst wenn das ein Tagtraum sein sollte, was spielte es für eine Rolle? Lohnte es sich nicht, diesem Traum zu folgen? Alles, was er brauchte, war Mut. Etwas Mut.
    Dieser Gedanke bewirkte, dass Halil vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben ein berauschendes Glücksgefühl verspürte. Sein Geist, der seit Monaten in einem unsäglichen Chaos irrte, besänftigte sich, wurde zu einem ruhigen Gewässer. Er spürte, wie sich alle Türen seines Herzens öffneten und die sanftwarme Brise Istanbuls hineinströmte. Es wurde Frühling. Mit seinen zarten Aromen, seinen erregenden Farben kam ein außerordentlich schöner Frühling über die Stadt.
    Mit dieser seltsamen Wahrheit, die er entdeckt hatte, bemerkte Halil auch die Blumen, an denen er immer achtlos vorbeigezogen war, die kleinen Schmetterlinge, die entspannt über ihnen flatterten, die noch nie wahrgenommenen Düfte der Knospen, die mächtigen Bäume, nach denen er sich noch nie umgedreht hatte, die Straßenkatzen, die er wer weiß wie oft überfahren hatte, weil er sie ignorierte, die verlausten Straßenhunde, die er trat, wann immer er konnte, die ekelerregenden, schnüffelnden Straßenkinder, die altgedienten Moscheen mit ihren schiefen Minaretten, die betagten Häuser, die sich wie ausgediente Greise nach vorn beugten, die Erker, die wie Brüste alter Weiber hingen, also die eigentlichen Schönheiten Istanbuls, eine nach der anderen.
    Könnte er in den Spiegel schauen, hätte er gesehen, dass sich ein noch nie dagewesenes Lächeln auf sein Gesicht gelegt hatte. Als Halil an der roten Ampel hielt, gab er einem Bettler, der schleifenden Fußes auf ihn zukam, Geld. Die Ampel schaltete auf Grün, er drückte aufs Gas. Jetzt schwebte er.

    Güldane hatte sich diesen Tag etwas kosten lassen und ein sonnenfarbenes Samtkleid gekauft. An der Spitze ihres tiefen V-Ausschnitts war eine große, dunkelrote Rose angesteckt. Gezwirbelte goldene Kordeln, die von der Blume hinunterhingen, waren an der Taille befestigt. Sie trug einen ebenfalls goldenen Gürtel mit Silberfäden. Auf dem Gürtel waren Steine eingearbeitet, die in allen Farben glitzerten, und auch die Schnalle war beeindruckend. Der Rock mit gleichfarbigem Spitzenvolant reichte ihr bis unter die Knie. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben hochhackige, goldschimmernde Schuhe angezogen. Sie schob ihren Rock höher und fragte sich, ob er lieber etwas kürzer sein sollte, verwarf diesen Gedanken aber wieder. So war es besser.
    Ihre köstlich schönen Haare, frisch mit Henna gefärbt, glänzten. Sie hatte Kajal aufgetragen und ihre Lippen mit einem dunkelroten Lippenstift geschminkt. Sie sah tatsächlich blendend aus. Dann warf sie noch einen letzten Blick in den Spiegel. Sollte sie einen Teil ihrer Haare oben zusammenbinden … vielleicht auf eine Seite die Haarspange mit dem Stein … oder lieber eine Hochsteckfrisur … schließlich verwarf sie alles. Sie ließ ihre Haare frei fallen und spazierte aus dem Zimmer.
    Yunus hatte eine schwarze Hose und ein weißes Hemd angezogen, sich einen der alten Schlipse seines Vaters umgebunden, sein Tamburin wie immer unter den Arm geklemmt und wartete auf Güldane. Als sie mit ihrer ganzen Pracht wie eine aufgehende Sonne im Raum erschien, kippte er fast aus den Latschen. In diesem Moment dachte er aufrichtig, dass sonst nirgendwo auf der Welt eine solche Schönheit existieren kann.
    Güldane gab ihrem Bruder, der mit weit aufgerissenen Augen dastand, eine leichte Backpfeife, um ihn zu sich zu

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