Der Hinterhalt
wert. Als wir nach dreißig Minuten dieselbe Strecke zurückgelegt hatten, für die ich früher fünfzehn gebraucht hatte, näherten wir uns dem Fuß des Felsens, der fast fünfzig Meter hoch senkrecht emporragte. Du recktest den Hals und blicktest zu seiner Spitze hinauf, die sich knapp über die Baumwipfel erhob.
»Wow«, sagtest du, als wir den Felsen erreichten. Du gingst auf den Felsen zu und berührtest ihn, prüftest seine Beschaffenheit. »Das ist echt beeindruckend. Wie hoch ist er?«
»Fast fünfzig Meter«, antwortete ich. »Wir sind früher immer an ihm hochgeklettert.«
»Tatsächlich?«, fragtest du und schienst überrascht zu sein, dass du das noch nicht über mich wusstest.
»Ja.« Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich den Felsen erklommen hatte, als wäre es gestern gewesen. Jared hatte all die Bücher gelesen und sämtliche Vorbereitungen getroffen und sich deshalb bereit erklärt, beim ersten Aufstieg das Seil zu sichern. Also blieb es Michael und mir überlassen, untereinander auszumachen, wer als Erster klettern würde. Ich bot Michael an, ihm den Vortritt zu lassen. Er wollte davon nichts wissen. »Das ist dein Felsen, Joe. Du hast uns hierhergebracht. Du kletterst als Erster.« Der erste Aufstieg dauerte über zwei Stunden. Ich kämpfte mich langsam voran, hing gut dreißig Meter über dem Boden und hielt mich an winzigen Felsvorsprüngen fest. Jared und Michael johlten ununterbrochen und feuerten mich an. Wir waren alle drei noch mehr als ein Jahr von unserem achtzehnten Geburtstag entfernt. Damals war die Welt für uns noch einfach.
»Und wie kommen wir da hoch?«, wolltest du wissen. In deinem Blick lag Übermut, den ich seit dem Wochenende, an dem wir uns kennenlernten, nicht mehr gesehen hatte.
»Auf der anderen Seite führt ein Pfad hinauf. Der ist allerdings ziemlich steil. Meinst du, du schaffst das?«
»Denkst du etwa, du kannst mich aufhalten, Hinkebein?«
Wir marschierten weiter. Mein Bein brannte. Du musstest dich ein paar Mal umdrehen und mir die Hand reichen, um mir zu helfen. Ich versuchte, nicht zu fest an deiner Hand zu ziehen, weil ich befürchtete, ich könnte dir wehtun. Schließlich schafften wir es gemeinsam bis zum Gipfel. Von dort oben kam es uns so vor, als sähen wir halb New Jersey vor uns. Wir gingen zur Kante, setzten uns hin und ließen die Füße über dem fünfzig Meter tiefen Abgrund baumeln. Die Baumkronen reichten uns bis knapp unter die Fußsohlen. Du lehntest den Kopf an meine Schulter.
»Wie lange kommst du schon hier hoch?«
»Seit ich sieben bin. Ich kam immer hier hoch, wenn ich vor irgendwas flüchten wollte. Nachdem mein Vater starb, bin ich ständig hierhergekommen. Ich fuhr von unserem neuen Haus mit dem Fahrrad her. Als Michael, Jared und ich vom Krieg erfuhren, kamen wir alle drei hierher. Hier waren wir unter uns. Kein Krieg, kein Tod.«
»Klingt nett.«
»Das war es auch.«
Wir verbrachten noch etwa zwanzig Minuten damit, die Welt von oben zu betrachten, zu beobachten, wie kleine Spielzeugautos die Straßen entlangfuhren, zu beobachten, wie winzige Menschen in ihren Gärten herumhantierten. Wir saßen da, dein Kopf ruhte auf meiner Schulter, und wir betrachteten die Welt, zu der wir nicht mehr gehörten. Der Nachmittag verstrich, es wurde kälter, und wir beschlossen, uns auf den Heimweg zu machen.
Als wir am frühen Abend zu Hause ankamen, ging ich nach oben und umarmte meine Mutter. Sie erwiderte meine Umarmung, jedoch ohne Herzlichkeit. Irgendetwas stimmte nicht, doch ich ignorierte es. Ich hatte keine Lust, mit ihr zu diskutieren. Wir begaben uns ins Wohnzimmer. Du setztest dich auf die Couch, und ich schaltete den Fernseher ein. Nach einer Weile entschuldigte ich mich und ging nach oben ins Badezimmer, um die Schusswunde an meinem Bein zu überprüfen. Ich zog meine Jeans aus und betrachtete mein Bein in dem großen Spiegel an der Wand. Es war weder Blut noch Eiter zu sehen. Die Wunde schien gut zu verheilen.
Ich war etwa fünf Minuten im Badezimmer, als es an der Tür klopfte. »Wer ist da?«, fragte ich.
»Hier ist deine Mutter, Joseph. Wir müssen reden.«
»Einen Moment. Ich ziehe nur meine Hose wieder an.« Ich schlüpfte wieder in meine Jeans und öffnete die Tür. Meine Mutter stand keine zehn Zentimeter davor. Ihre Augen waren voller Tränen, und ihre Unterlippe bebte. Alles schien in sich zusammenzustürzen. Die Zeit blieb stehen.
»Sie ist siebzehn, Joseph«, sagte meine Mutter mit bebenden Lippen. Das
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