Der Hinterhalt
wir es bis nach Charleston in South Carolina. Ich fuhr die Nacht durch. Du schliefst irgendwann auf dem Rücksitz ein. Als wir dem Jugendlichen begegneten, war mir sofort klar gewesen, dass Chicago nicht mehr in Frage kam. Wir hatten New Jersey verlassen und waren dann in einer mehr oder weniger geraden Linie Richtung Chicago gefahren. Sobald der Leichnam des Jugendlichen gefunden wurde, würden sie nicht lange brauchen, um sich auszurechnen, wohin wir unterwegs waren. Wir mussten den Kurs ändern.
Ich war noch nie in Charleston gewesen. Das machte es so attraktiv. Ich hatte dort nie einen Job erledigt und nie unterrichtet. Ich war schon daran vorbeigefahren, hatte aber nie angehalten. Soweit ich wusste, gab es in Charleston niemanden, der einen Grund hatte, mich tot sehen zu wollen. Wenn sie uns in Charleston finden wollten, mussten sie kommen und nach uns suchen. Ich hoffte, die Stadt war groß genug, damit ich dort Arbeit finden würde und wir untertauchen konnten.
Wir kamen mit ungefähr zweihundert Dollar und einem verbeulten Auto in Charleston an. Noch hatten wir etwas Proviant übrig, aber auch der ging langsam zur Neige. Wir mussten uns einen neuen Wagen besorgen. Wir mussten uns etwas einfallen lassen, wie wir zu Geld kamen. Ich war bereit zu arbeiten, doch die Liste meiner vermarktbaren Fähigkeiten war schmerzlich kurz. Und ich war nicht gewillt, für Geld Menschen zu töten. Das wäre nicht richtig gewesen. Außerdem hatte ich dir ein Versprechen gegeben. Wir brauchten eine Unterkunft. Ich musste die Möglichkeit haben, mich zurechtzumachen, wenn ich irgendeine Arbeit finden wollte, doch ich hatte Angst davor, zu lange an ein und demselben Ort zu bleiben. Ich entschied mich für eine Drei-Nächte-Regel: Wir würden nirgendwo länger als drei Nächte bleiben. Wir würden in Bewegung bleiben. Eine andere Idee hatte ich nicht. Ohne Geld konnten wir nicht dauernd die Stadt wechseln. Ich hätte dir meine Pläne gerne mitgeteilt, doch du redetest nicht mit mir. Ich nahm an, du brauchtest Zeit. Vermutlich hatte das, was du in Ohio gesehen hattest, dir endgültig klargemacht, was Sache war. Dir die Realität vor Augen geführt. Die erste Nacht verbrachten wir in einem billigen Motel etwa vierzig Meilen außerhalb von Charleston. Am nächsten Tag fuhren wir dann in die Stadt, sahen uns um und versuchten auszuloten, ob ich dort Arbeit finden konnte.
An unserem zweiten Tag in Charleston redetest du endlich wieder mit mir. »Was, glaubst du, ist mit ihm passiert?«, fragtest du mich. Wir saßen auf einer Bank im Waterfront Park. Ich überflog die »Aushilfe gesucht«-Anzeigen in einer der kostenlosen Lokalzeitungen. Dein Gesichtsausdruck war leer. Zunächst wagte ich es nicht, überhaupt etwas zu dir zu sagen. Ich sah dich an und hatte Angst, meine Antwort könnte dich wieder verstummen lassen. Du starrtest aufs Meer hinaus. »Ich meine, was, glaubst du, ist mit seiner Leiche passiert?« In deiner Stimme lag keine Traurigkeit mehr, nur Neugier.
»Falls seine Eltern und seine Freunde noch nicht bemerkt haben, dass er verschwunden ist, wird es ihnen bald auffallen. Sie werden Leute losschicken, die nach ihm suchen. Letzten Endes wird irgendjemand die Leiche entdecken. Die Polizei wird eingeschaltet werden. Ohne Verdächtige und ohne Motiv wird die Sache einfach als ein weiterer unaufgeklärter Mord, als eine willkürliche Gewalttat zu den Akten gelegt werden. Seine Eltern und seine Angehörigen werden die Wahrheit allerdings kennen.« Vom Meer wehte eine kühle Brise. Es roch nach verfaultem Fisch.
»Und sie werden noch einen Sohn verloren haben«, sagtest du, sahst mich an und suchtest nach einem Zeichen von Reue.
»Ja«, entgegnete ich, und die Schuldgefühle, die ich empfunden hatte, nachdem ich den Jugendlichen tötete, kehrten zurück. Die Schuldgefühle taten gut. Sie sorgten dafür, dass ich mich mehr und mehr wie ein Mensch fühlte.
»Und deshalb sind wir jetzt in Charleston und nicht in Chicago?«
»Und deshalb sind wir in Charleston und nicht in Chicago«, bestätigte ich.
Du stelltest keine weiteren Fragen mehr, noch nicht. Vorerst hattest du genug gesprochen.
Nach zwei Nächten in einem Motel übernachteten wir zweimal im Auto. Wir achteten darauf, Hauptstraßen zu meiden. Noch hatte ich keine Idee, wie wir an einen neuen Wagen kommen konnten. Unser Essen ging zur Neige und unser Geld ebenfalls. Wir befanden uns seit vier Tagen in Charleston, und ich hatte noch immer keine Arbeit gefunden.
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