Der Hinterhalt
Matsch. Es waren unzählige bedruckte Seiten. Absatz um Absatz voller Details. Von unserer Position aus konnten wir die Worte nicht lesen. Ich wusste allerdings auch so, was dort stand. Ich sah so etwas nicht zum ersten Mal. Abgesehen von den bedruckten Seiten hatten sich in dem Rucksack auch Fotos befunden. Die Fotos waren auch von dort, wo wir standen, klar zu erkennen. Auf fünf oder sechs Fotos war ich zu sehen. Aufnahmen von mir mit Kinnbart, Aufnahmen von mir ohne Bart, ältere Aufnahmen und eine Aufnahme, die irgendwann in den letzten drei Monaten gemacht worden sein musste. Ein Foto zeigte unseren Leihwagen, hinter dem wir gerade standen. Die Massachusetts-Kennzeichen, die wir in Pennsylvania zurückgelassen hatten, waren darauf deutlich zu erkennen. Außerdem gab es noch zwei Fotos von dir. Bei dem ersten schien es sich um die Vergrößerung eines Fotos von dir aus deinem Highschool-Jahrbuch zu handeln. Du warst darauf vermutlich nicht älter als fünfzehn. Das zweite war eine neuere Aufnahme von dir, die dich neben einem älteren Mann am Ufer eines Sees zeigte. Der Mann hatte dir den Arm um die Schultern gelegt. Vermutlich handelte es sich um deinen Vater. Derjenige, der dieses Foto beschafft hatte, musste es aus dem Haus deiner Eltern entwendet haben. Ich hörte, wie deine Atmung schneller wurde, als du die Fotos betrachtetest, die sich im Regen kräuselten.
Plötzlich fing der Jugendliche an zu sprechen. »Dein Kind gehört nicht zu ihm, Maria«, sagte er. Er sprach dich direkt an. »Dein Kind gehört zu uns. Dein Kind hat die Chance, etwas Gutes für die Welt zu tun.«
Als du seine Worte hörtest, fingst du an zu weinen. Du legtest die Hand auf deinen Bauch, als wolltest du dein Baby beschützen, beugtest dich vor und stütztest dich mit der anderen Hand auf dem eingedrückten Kofferraum unseres Wagens ab. Du schluchztest und hieltst kurz inne, um nach Luft zu schnappen. Dann kamen dir Worte über die Lippen. Wütende Worte, die sich an den Jugendlichen richteten. »Was hat er dir denn getan?«, fuhrst du ihn an. »Warum lässt du uns nicht einfach in Ruhe?« Du fingst erneut an zu schluchzen und krümmtest dich. Als du wieder zu Atem kamst, wiederholtest du leiser: »Warum lässt du uns nicht einfach in Ruhe?« Dann sahst du den Jugendlichen an, der schlammverschmiert im Regen kniete, und fragtest noch einmal, als würde diese Frage alles beenden: »Was hat er dir denn getan?«
»Dieser Scheißkerl«, erwiderte der Jugendliche und deutete auf mich – er hatte die Dreistigkeit, auf mich zu deuten, während ich ihm eine geladene Pistole an den Kopf hielt, »dieser Scheißkerl hat meinen älteren Bruder umgebracht.« Er sprach zu dir, als wäre ich gar nicht da. »Er ist zu uns nach Hause gekommen« – die wütende Stimme des Jugendlichen wurde lauter – »als ich dreizehn war. Er kam, als mein Bruder und ich allein zu Hause waren. Mich hat er zuerst gepackt, weil mein Bruder im ersten Stock war. Er hat mich gepackt, mir Hände und Füße gefesselt und mir Klebeband über den Mund geklebt. Dann ist er nach oben gegangen und hat meinen großen Bruder erdrosselt.« Der Jugendliche deutete immer wieder auf mich, während er sprach. »Das hat er mir getan.« Deshalb hatte der Jugendliche das Paket bekommen. Und deshalb erkannte ich ihn. Sein Bruder war mein dritter Job gewesen. Er hatte in Cincinnati gewohnt, gute drei Stunden entfernt. Ich erinnere mich nicht mehr, weshalb er eine Zielperson war.
Du gabst keine Antwort. Dir war das alles zu viel. Ich machte mir Sorgen um unser Baby. Ich musste dem Ganzen ein Ende setzen. Der Jugendliche fuhr fort: »Dein Baby, Maria, dein Baby kann besser sein als das.« Ich hatte genug gehört. Es war auch mein Baby. Ich drehte mich um und trat dem Jugendlichen ins Gesicht. Sein Körper zuckte, und er fiel kopfüber in den Matsch. Langsam kämpfte er sich wieder auf alle viere hoch. Ich hasste ihn in diesem Augenblick. Er versuchte, dich dazu zu überreden, mich zu verlassen. Dass er sterben würde, war ihm völlig egal.
»Bist du etwa kein Killer?«, schrie ich ihn schließlich an. Er war genau wie ich, als ich in seinem Alter war.
Er hob den Kopf und sah mich zum ersten Mal seit Minuten wieder an. Sein Blick war voller Verachtung, seine Stimme voller Hass. »Ich bin nicht wie du«, sagte er. »Ich bin anständig.« Ich drückte ab. Der Schuss hallte durch die Nacht, als würde er noch tagelang nachklingen. Der Kopf des Jugendlichen wurde nach hinten gerissen, dann
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