Der Hinterhalt
sich, lautlos zu gehen. Es hatte den Anschein, als sei er auf dem Weg an mir vorbei in Richtung Küche. Darauf wollte ich mich jedoch keinesfalls verlassen. Inzwischen war er nur noch etwa einen Meter von mir entfernt. Ich sah sein Gesicht, das in der Dunkelheit blass wirkte. Mir war klar, dass er wusste, wo ich war. Mir war klar, dass er bluffte. Ich sah ihn an und prägte mir seine Position ein. Dann streckte ich den Arm aus dem Schrank. Ich fuhr mit der Hand an der Wand entlang, bis ich den Lichtschalter spürte, und schaltete das Licht ein. Im Bruchteil einer Sekunde war das Zimmer hell erleuchtet. Ich hatte auf die Helligkeit gezählt. Der blasse Mann versuchte, mit seiner Pistole auf mich zu zielen, doch seine Augen hatten sich noch nicht auf das Licht eingestellt. Er war praktisch blind. Ich konnte ebenfalls nur Farbblitze erkennen, aber mehr brauchte ich auch nicht zu sehen. Ich stieg aus dem Schrank, hob den rechten Fuß an und trat dorthin, wo ich sein Knie vermutete. Ich spürte sofort, wie sein Bein einknickte. Er fiel zu Boden und gab dabei einen Schuss aus seiner Pistole ab. Ich hörte Glas splittern, als die Kugel das Küchenfenster durchschlug. Dann ging im ersten Stock das Licht an. Ich hörte Schreie. Meine Augen gewöhnten sich allmählich an die Helligkeit. Ich richtete den Blick nach oben, woher die Schreie kamen, und sah eine Frau im Nachthemd am oberen Ende der Treppe stehen. Sie hielt sich am Geländer fest und schrie aus vollem Hals.
Ich rannte abermals. Inzwischen kam ich mir vor wie ein wandelndes Desaster, das von hier nach da rannte und überall Chaos und Verwüstung anrichtete. Es kam mir vor, als sei diese Nacht eine Metapher für mein ganzes Leben gewesen. Ich rannte zur Eingangstür hinaus. Ich rannte weg von der Frau, die im ersten Stock schrie. Ich rannte weg von dem verletzten Mann mit der Pistole. Dieses Mal war der Tumult zu groß. Die anderen würden ihn hören. Alle, die in der Dunkelheit umherschlichen, würde es an diesen einen Ort ziehen. Ich musste die Flucht ergreifen. Sobald ich draußen auf der Straße war, rannte ich wieder nach Süden. Der Himmel wechselte langsam die Farbe. Als ich aus dem Haus trat, war er dunkelviolett. Die Morgendämmerung setzte ein. Ich kam bis zur übernächsten Querstraße, bis mich wieder einer von ihnen verfolgte. Er lief auf das Haus zu, während ich von ihm wegrannte, doch als er mich sah, machte er kehrt und folgte mir. Ich erkannte ihn wieder. Es handelte sich um den zweiten Mann vom Friedhofszaun. Ich fragte mich, ob er seinen Partner ebenso zurückgelassen hatte, wie sie den anderen Mann am Straßenrand zurückgelassen hatten. Meine Beine waren inzwischen schwer. Ich rannte schon zu lange. Viel länger würde ich nicht mehr laufen können.
Doch das spielte keine Rolle, da ohnehin nicht mehr viel Platz zum Laufen vorhanden war. Am südöstlichen Ende von Charleston befindet sich ein Park mit Eichen und einem kleinen Pavillon. In der Nähe des Wassers stehen alte Kanonen und eine Gedenkstatue. Dahinter beginnt das Meer. Als ich am Wasser ankam, als ich nirgendwohin mehr rennen konnte, war ich völlig erschöpft.
Mein Verfolger hatte den Abstand zwischen uns verringert, bis er nur noch etwa zehn Meter hinter mir war. Als ich am Ufer angekommen war, drehte ich mich zu ihm um. Ich erkannte ihn nicht. Er sah niemandem ähnlich, an den ich mich erinnerte. Er sah niemandem ähnlich, den ich getötet hatte. Ich hätte ihn fragen können, warum er mich verfolgte. Ich hätte ihn fragen können, warum er bereit war, so viel zu riskieren, nur um mich zu töten. Den Jugendlichen in Ohio hatte ich das gefragt. Jetzt war ich zu müde, als dass es mich gekümmert hätte.
Der Himmel über mir verfärbte sich von Dunkelviolett zu Tiefrot. Bald würde hinter mir die Sonne aufgehen. Der Mann hob seine Pistole und zielte auf mich. Ich fragte mich, ob ich dir genug Zeit verschafft hatte. Ich fragte mich, ob unser Sohn durchhielt. Ich stellte mir vor, wie du dich allein in einen Bus setztest, der nach Westen fuhr. Ich stellte mir vor, wie du aus dem Bus ausstiegst und von niemandem verfolgt wurdest. Es machte mich glücklich, mir vorzustellen, dass es dir gelungen war zu entkommen, doch es stimmte mich traurig, dass du allein sein würdest. Es stimmte mich traurig, dass ich unseren Sohn niemals kennenlernen würde, falls er überlebte. Was hätte ich in diesem Moment nicht alles für einen einzigen Tag mit unserem Sohn gegeben. Ich sah auf und blickte in
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