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Der Hinterhalt

Der Hinterhalt

Titel: Der Hinterhalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevor Shane
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war. Ich wollte keine Risiken mehr eingehen.
    Als du aufwachtest, waren wir noch immer auf der langen, monotonen Straße unterwegs, die durch die Wüstenlandschaft führte. Du verstelltest die Lehne, um aufrecht sitzen zu können. Du sahst müde aus und starrtest mit leerem Blick auf die freie Straße. »Wie lange habe ich geschlafen?«, murmeltest du.
    »Ein paar Stunden.« Du hattest geschlafen, seit wir zum Abendessen angehalten hatten. Ich blickte abermals zu dir hinüber. Im Sitzen sah dein Bauch noch größer aus.
    »Kommen wir gut voran?«, fragtest du.
    »Na ja, die kleine Kiste ist leider nicht die allerschnellste«, erwiderte ich. Dann deutete ich durch die Scheibe auf den Himmel. »Sieh dir mal die Sterne an.«
    Du beugtest dich vor, um durch die Windschutzscheibe nach oben schauen zu können. »Krass«, sagtest du, und deine Augen leuchteten, als würdest du zum ersten Mal einen Nachthimmel sehen. »In Kanada gibt’s keine solchen Sterne.«
    »In New Jersey auch nicht«, erwiderte ich.
    Du starrtest den Sternenhimmel ein paar Minuten lang an, dann lehntest du dich wieder in deinem Sitz zurück. Ich warf einen Blick auf dein Gesicht und sah, wie sich deine Augen mit Tränen füllten. Du hattest sie so lange zurückgehalten. Du warst so lange tapfer gewesen. »Versprich mir, dass alles gut gehen wird«, platzte es aus dir heraus. Du sahst mich nicht an. Du richtetest den Blick stur auf die Straße vor uns.
    Ich überlegte, was ich dir darauf antworten sollte. »Das kann ich nicht«, sagte ich.
    Du sahst mich an, fixiertest meine Augen. Du zögertest und atmetest langsam tief durch. »Dann lüg mich an«, sagtest du schließlich und ließest deinen Tränen freien Lauf.
    Ich dachte kurz nach. »Alles wird gut«, versicherte ich dir.
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch weiterfuhr. Irgendwann schliefst du wieder ein. Ich jagte den Wagen weiter durch die Nacht. Ich wollte eine möglichst große Distanz zwischen meiner Vergangenheit und meiner Zukunft schaffen. Irgendwann wurde ich zu müde, um weiterzufahren, hielt neben der Straße an und schlief. Im Schlaf träumte ich.
    In meinem Traum hielt ein Wagen vor uns an, während wir beide am Straßenrand im Auto schliefen. Der Wagen kam mit blockierenden Reifen zum Stehen, wirbelte roten Wüstensand auf und versperrte jede Fluchtmöglichkeit, die wir hatten. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. Beide hielten eine Pistole in der Hand. Ich erkannte die Frau, eine hübsche Asiatin, konnte sie jedoch zunächst nicht einordnen, da sich ihr Gesicht verändert hatte, als sei es wiederhergestellt und dabei anders zusammengefügt worden. Der Mann war mir fremd. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, veränderte sich sein Gesicht. Seine Nase, seine Augen, seine Haarfarbe, seine Lippen – alles veränderte sich. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, war er ein anderer Mensch. Er war jeder: jeder, den ich nicht kannte, jeder, den ich auf der Straße sah und bei dem ich mich fragte, auf wessen Seite er stand.
    Es war noch Nacht, als sie aus ihrem Wagen stiegen und uns aufforderten, ebenfalls auszusteigen. Dann gingen sie mit uns in die Wüste. Der Himmel war mit Sternen übersät. Der Mann und die Frau hielten ihre Pistolen auf uns gerichtet. Ich sagte ihnen, dass du erst siebzehn seist. Ich sagte ihnen, dass du tabu seist, dass du unschuldig seist. Es schien ihnen egal zu sein. Der Mann stellte mir Fragen zu den Menschen, die ich getötet hatte. Er versuchte, mich Momente in meinem Leben noch einmal erleben zu lassen, die ich eigentlich vergessen wollte. Er kannte kein Erbarmen und stellte mir Fragen zu Menschen, an die ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte, Menschen, deren Leben durch meine Hand geendet hatte.
    Ich warf einen Blick auf die Asiatin und dachte an Long Beach Island. Ich dachte an Jared und Michael und erinnerte mich an jenen ersten Abend, als Catherine mit mir geflirtet hatte. In einer einfacheren Welt hätte ich sie mit zu mir nach Hause genommen. Wir hätten bis zum Morgen gevögelt und wären dann wieder getrennte Wege gegangen. Ich studierte ihr Gesicht, ihre wiederhergestellte Nase und ihre rekonstruierten Wangenknochen. Ihre Augen sahen noch genauso aus, doch der Rest ihres Gesichts war anders. Sie musterte mich im Gehen. Ich rechnete damit, dass sie verärgert sein würde. Das war sie jedoch nicht. »Du siehst gut aus«, sagte ich zu ihr, gerade laut genug, dass sie – und nur sie – es hören konnte. Sie machte Anstalten,

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