Der Hinterhalt
die Mündung der Pistole meines Mörders. Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als ich dem Tod so nahe gewesen war – als ich vor Long Beach Island im Meer getrieben war. Ich erinnerte mich an den schieren Überlebenswillen, der mich damals angetrieben hatte, auch wenn mir kein einziger Grund einfiel, weshalb ich damals unbedingt leben wollte. Jetzt wusste ich nicht nur, dass ich leben wollte, sondern ich wusste auch, warum. Unser Sohn machte die Aussicht darauf, sterben zu müssen, so viel schlimmer.
Ich sagte kein Wort zu meinem Mörder. Was gab es schon zu sagen? Er sagte ebenfalls kein Wort. Ich hörte nur einen Pistolenschuss und spürte nichts. Dann hörte ich noch einen Schuss. Und dann noch einen. Ich spürte noch immer nichts außer der Brise, die vom Wasser herwehte. Ich öffnete die Augen. Die Kugeln waren nicht für mich bestimmt gewesen. Die ersten beiden Schüsse hatten meinen Mörder in die Brust getroffen. Die dritte hatte seinen Kopf erwischt. Als ich die Augen öffnete, stand er noch immer vor mir, und Blut strömte aus seinen frischen Wunden. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Wir sahen uns für einen kurzen Moment in die Augen, ehe er zusammenbrach. Er wirkte nicht verängstigt, nur verwirrt, da er ebenso wenig wusste wie ich, was vor sich ging. Ich blickte mich um, doch mir war nicht klar, woher die Schüsse gekommen waren. Ich sah niemanden. Aus irgendeinem Grund war ich verschont worden, obwohl so viele Menschen um mich herum gestorben waren. Aus irgendeinem Grund schien es in diesem Moment keine Rolle zu spielen, ob ich wusste, warum.
Ich fing erneut an zu rennen, wieder erfrischt, wiederbelebt. Zum letzten Mal in dieser Nacht rannte ich. Bis zum Busbahnhof waren es gut sieben Meilen, doch ich wusste, dass ich es schaffen würde. Ich hatte eine neue Chance bekommen.
Du warst bereits am Busbahnhof, als ich dort ankam. Du verstecktest dich in einer Ecke, damit dich niemand sehen konnte. Zwei Busse waren bereits abgefahren, doch du hattest dich geweigert einzusteigen, weil du auf mich warten wolltest, weil du dich an die geringe Hoffnung klammertest, dass ich es schaffen würde. Irgendwie schaffte ich es tatsächlich. Ich erzählte dir nicht, was passiert war. Wie hätte ich es dir auch erzählen können, wenn ich es nicht einmal selbst wusste?
Der nächste Bus fuhr nach Nashville. Wir stiegen ein.
Du schliefst fast die gesamte Busfahrt durch. Ich fragte dich, wie es dir geht. Du entgegnetest, du hättest keine Krämpfe gehabt und nur leichte Blutungen. Dann sagtest du mir, dass du auf dem Weg zum Busbahnhof zum ersten Mal gespürt hättest, wie sich unser Sohn bewegt.
Ich schlief während der Busfahrt höchstens zwei Stunden. Jedes Mal, wenn der Bus anhielt, ertappte ich mich dabei, wie ich alle musterte, die zustiegen. Ich war mir sicher, einer von ihnen würde auf uns losgehen. Keiner tat es.
Wir blieben nicht länger als nötig in Nashville. Als wir dort ankamen, kauften wir uns als Erstes ein neues Auto. Ich machte einen alten, ramponierten Chevy für dreihundert Dollar ausfindig. Der Typ, der ihn uns verkaufte, versprach mir, dass der Motor in gutem Zustand sei. Wir hatten keine Zeit, um zu feilschen. Ich nahm mir vor, dass wir so weit fahren würden, wie der Wagen durchhielt, und uns dann dort niederlassen würden, wo er den Geist aufgab.
Dieses Mal würden wir nach Westen fahren. Ich würde so lange fahren, bis ich vor Erschöpfung nicht mehr konnte. Für jemanden in deiner körperlichen Verfassung hattest du bereits viel zu viel durchgemacht. Es wurde Zeit, dass du dich ausruhen konntest.
SIEBZEHNTES KAPITEL
Ich fuhr schnell durch die Dunkelheit. Die Landschaft war karg und flach. Wir waren bereits seit Stunden unterwegs. Ich wusste nicht mehr, wie lange schon. Der Tag machte abermals der Nacht Platz. Ich verlangte der kleinen Blechdose von einem Auto alles ab, was sie hergab. Der Mond hing tief, und am Himmel befanden sich mehr Sterne, als ich jemals zuvor gesehen hatte. Während ich den Highway entlangraste, verschwamm die Umgebung, doch die Sterne bewegten sich nicht.
Ich blickte zu dir hinüber. Du lagst neben mir auf dem Beifahrersitz. Die Lehne war ganz zurückgestellt. Du lagst auf der Seite, mit dem Gesicht zu mir, und hattest die Hände zwischen die Knie geklemmt, um sie zu wärmen. Seit Charleston hattest du fast ununterbrochen geschlafen. Sobald wir irgendwo hielten, würden wir dich zu einem Arzt bringen, um sicherzugehen, dass mit unserem Sohn alles in Ordnung
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