Der Hinterhalt
Ich sorge dafür, dass sie nie wieder tun können, was sie mit meiner Schwester gemacht haben.«
»Du tötest sie?« Jegliche Farbe war aus deinem Gesicht gewichen.
»Ich muss«, entgegnete ich.
»Und wie oft musst du?«
Ich wollte diese Frage nicht beantworten, aber ich hatte es versprochen. »Oft. Es herrscht Krieg, Maria.«
»Gibt es noch andere?« Diese Frage ließ mich schmunzeln. Du hättest sie mir nicht gestellt, wenn du nicht gedacht hättest, ich sei womöglich verrückt, ein einsamer Ordnungshüter, der gegen einen imaginären Feind kämpft.
»Tausende«, erwiderte ich. Ich hatte keine Ahnung, wie viele es tatsächlich waren. Hunderte? Tausende? Hunderttausende? Das hatte man mir nie gesagt. Vielleicht wusste Jared Bescheid.
»Aber wofür kämpfst du?«, wolltest du wissen. Inzwischen warst du kaum noch in der Lage zu sprechen.
»Für meine Schwester«, antwortete ich in der Hoffnung, dass das nach all dem, was ich dir soeben erzählt hatte, nachhallen würde.
»Okay«, entgegnetest du. »Dafür kämpfst du. Aber wofür kämpfen alle anderen?« Diese Frage war mir noch nie gestellt worden.
»Weil alle eine solche Geschichte zu erzählen haben, Maria. Mein Freund Jared musste mit ansehen, wie sie seinen älteren Bruder erwürgt haben. Mein Freund Michael hat seine Eltern nie kennengelernt. Er wuchs bei einer seiner Tanten auf. Jeder hat einen Grund zu kämpfen.«
»Aber das ergibt keinen Sinn, Joe. Es muss irgendwo angefangen haben. Man führt nicht grundlos einen Krieg. Es muss irgendwas geben, worum man kämpft. Macht? Land? Geld? Irgendetwas.« In deinem Blick war Mitleid zu erkennen. Hinter deiner Angst verbarg sich Mitleid. Dein Mitleid machte mich wütend. Es sorgte dafür, dass ich mir wie ein Idiot vorkam.
Ich zog in Erwägung, dir die Geschichten zu erzählen. Ich zog in Erwägung, dir von dem Sklavenaufstand zu erzählen und dass wir für die Freiheit der restlichen Welt kämpften. Ich zog in Erwägung, dir von den gebrochenen Friedensabkommen zu erzählen, doch ich wusste, dass es keinen Unterschied machen würde. Auch wenn diese Geschichten stimmten, waren es nicht deine Geschichten. Man versteht erst dann, wenn man selbst einen Grund hat zu kämpfen. Wir alle möchten die Vorgeschichte kennen. Wir alle möchten wissen, dass wir die Guten sind. Aber auch das erklärt nicht alles. Deshalb antwortete ich, so gut ich konnte. »Ums Überleben« war alles, was mir einfiel.
»Das ergibt keinen Sinn, Joe.« Du hattest Tränen in den Augen.
»Du verstehst es einfach nicht«, erwiderte ich. »Deine Angehörigen wurden nicht getötet. Wie könntest du es da verstehen?«
Du fingst an zu weinen. »Man führt keinen Krieg ums Überleben, Joe. Das ergibt einfach keinen Sinn. Wenn beide Seiten nur versuchen zu überleben, braucht ihr bloß aufzuhören zu kämpfen.«
»Wenn es nur so einfach wäre, Maria.«
»Und wann hört es auf?«, fragtest du. Du kanntest die Antwort, ohne dass ich etwas sagte. Du weintest wieder. Tränen strömten dir über die Wangen. »Hört es jemals auf?«
Ich gab dir keine Antwort. Ich war es langsam müde, Fragen zu beantworten, auf die ich keine Antwort wusste.
»Wie viele?«, wolltest du wissen, als der Strom deiner Tränen verebbte. Du wolltest wissen, wie viele Menschen ich getötet hatte. Diese Frage würde ich auch nicht beantworten.
»So viele, wie ich musste«, antwortete ich.
»Wie viele?«, fragtest du mit mehr Nachdruck. Ich schüttelte nur den Kopf. Du erkanntest, dass du nichts mehr aus mir herausbekommen würdest.
»Was soll ich jetzt machen?« Du sahst zu mir auf, deine blauen Augen so groß wie Monde.
»Vertrau mir«, flehte ich dich an. »Ich bin ein guter Mensch, Maria. Vertrau mir.« Noch während ich die Worte aussprach, wurde mir bewusst, dass du keinen Grund hattest, mir zu vertrauen. Ich bin überzeugt, du wärst gegangen, wenn du nicht deine eigenen Geheimnisse gehabt hättest. Ich hätte es dir nicht verübelt, wenn du gegangen wärst.
»Und was ist mit mir?«, fragtest du.
»Wenn du bei mir bleibst, wirst du zu einem Teil dieser Sache. Allerdings gibt es bestimmte Regeln, die dich schützen – zumindest am Anfang.«
»Regeln?«, fragtest du.
»Ja«, erwiderte ich und bemerkte, wie lächerlich das klang. »So, wie sie mich nicht töten konnten, weil ich noch nicht achtzehn war, als sie kamen, um meine Schwester umzubringen. Das ist eine der Regeln.« Während ich sprach, war mir nicht bewusst, wie wichtig die Regeln noch werden
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