Der Hinterhalt
Schwester. Sie brachte mir bei, stark zu sein. Ich liebte sie sehr. Mit vierzehn ließ mich meine Mutter abends immer noch nicht allein zu Hause bleiben. Ich verstand nie, warum, und es war mir ziemlich peinlich. Viele meiner Mitschüler durften allein zu Hause bleiben. Meine Mutter war einfach paranoid. Das macht dieses Leben aus einem. Irgendwann war sie dann an einem Samstagabend bei Freunden zum Bridge-Spielen eingeladen. Meine Schwester hat damals im zweiten Jahr an der Rutgers University studiert. Meine Mutter bat sie, nach Hause zu kommen und an diesem Abend auf mich aufzupassen. Selbstverständlich sagte meine Schwester ja. Sie hätte alles für mich getan. Also bestellten wir uns eine Pizza und sahen uns einen Film an.
Gegen elf Uhr kamen sie dann. Daran erinnere ich mich noch. Ich sah gerade auf die Uhr, als plötzlich das Spiegelbild von einem von ihnen auf dem Fernsehbildschirm auftauchte. Er stand vor unserer Windfangtür und beobachtete uns. Ich wollte schreien, war aber vor Angst wie gelähmt. Noch bevor meine Schwester die Männer vor der Tür bemerkte, sah sie die Angst in meinen Augen. Sie waren zu dritt, aber mir kam es vor, als wären es hundert gewesen. Sie umzingelten unser Haus. Meine Schwester packte meine Hand, und wir rannten los, doch vor jeder Tür stand jemand. Da wir nicht wussten, was wir sonst tun sollten, liefen wir zur Hintertür. Meine Schwester machte sie auf. Einer der Männer wartete draußen. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussahen. In meiner Erinnerung sind sie nur schemenhafte Riesen. Jessica sprang einen von ihnen an. Er packte sie. Sie schrie: ›Lauf, Joe, lauf!‹ Also lief ich. Ich blickte mich nicht um. Ich hörte Jessica schreien, als der Mann sie zurück ins Haus zerrte, aber ich blickte mich nicht um. Die Nacht verbrachte ich zusammengekauert im Wald. Ich erinnere mich noch, dass ich die ganze Nacht gezittert habe, aber ich weiß nicht mehr, ob es kalt war oder nicht. Ich ging erst am Morgen zurück nach Hause. Als ich dort ankam, war meine Mutter da. Meine Schwester war weg. Sie starb, weil sie sich bereit erklärt hatte, auf mich aufzupassen. Meine Mutter hätte es besser wissen müssen. Mich hätten sie ohnehin nicht töten können.«
»Warum nicht?«, fragtest du.
»Weil ich noch nicht achtzehn war.«
»Das verstehe ich nicht«, sagtest du.
»Ich weiß.« Wie hättest du es auch verstehen können? »Ich werde es dir erklären.« Fotos vom Feind waren das, was bei jeder Unterrichtsstunde, der ich jemals beigewohnt hatte, als Nächstes kam. Man erzählte ihnen vom Tod, und dann zeigte man ihnen die Mörder. »Es gibt eine Gruppe von Menschen, die es darauf abgesehen hat, mich, meine Angehörigen und meine Freunde zu töten.« Dein Gesichtsausdruck veränderte sich abermals. Diesmal verwandelte sich Furcht in Unglauben, nachdem sie Verwirrung abgelöst hatte.
»Warum?«, fragtest du.
Ich hatte darauf nur eine Antwort, auch wenn ich sie selbst nicht mehr ganz glaubte. »Weil sie böse sind«, entgegnete ich. Vergiss all die anderen Geschichten. Vergiss die Geschichte vom Sklavenaufstand. Vergiss die Geschichte von den fünf Armeen. Vergiss die gebrochenen Friedensabkommen. Ich musste dich von der Bösartigkeit meiner Feinde überzeugen, damit du nicht vor mir weglaufen würdest, wenn ich dir von all den Dingen erzählte, die ich getan hatte.
Du reagiertest mit der zu erwartenden Skepsis. »Du willst mir also weismachen, dass es eine Gruppe von bösen Menschen gibt, die deine Angehörigen und Freunde umbringt, und niemand bemerkt es?«
»Doch, viele Leute bemerken es«, erwiderte ich. »Aber es wird alles vertuscht. Und es geht nicht nur um meine Angehörigen und meine Freunde. Es geht um mehr. Um viel mehr. Weißt du, wie viele Todesfälle jedes Jahr in den Vereinigten Staaten auf Unfälle zurückgeführt werden?« Du schütteltest den Kopf. »Über hunderttausend.« Ich kannte die Zahlen. Wir alle kannten die Zahlen. »Menschen neigen nicht in diesem Umfang zu Unfällen. Bei den meisten dieser Todesfälle handelt es sich nicht um Unfälle.«
»Was soll das heißen?«, fragtest du. Du warst dir nicht sicher, ob du mir glauben solltest.
»Es herrscht Krieg«, entgegnete ich.
Jetzt verstandest du. Zum ersten Mal verstandest du. Ich sah es in deinen Augen. »Und was tust du?«
»Ich kämpfe gegen sie«, erwiderte ich.
»Was heißt das, du kämpfst gegen sie?«, fragtest du.
»Ich mache sie ausfindig und sorge dafür, dass sie niemanden mehr töten können.
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