Der Hintermann
hielt ein Geländewagen, ein GMC Denali, neben ihm. Am Steuer saß einer der Malik-Doppelgänger. Hinten saßen ein zweiter Mann in derselben Aufmachung und Rafiq al-Kamal, Nadia al-Bakaris ehemaliger Sicherheitschef.
Es war al-Kamal, der Gabriel bedeutete, er solle einsteigen, und al-Kamal, der dreißig Sekunden später als Erster gewalttätig wurde – mit einem Ellbogenstoß in Gabriels Seite, der fast einen Herzstillstand bewirkte. Die beiden Männer warfen ihn zwischen den Sitzen zu Boden und schlugen auf ihn ein, bis ihre Arme erlahmten. Der Herbst ist zu Ende, dachte Gabriel, als er das Bewusstsein verlor. Jetzt kommt das Erntedankfest.
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I M L EEREN V IERTEL , S AUDI -A RABIEN
Auf offiziellen Landkarten ist die größte Sandwüste der Erde mit einem etwas bedrohlich klingenden Namen verzeichnet: Rub al-Chali – »Viertel der Leere«. Die Beduinen kennen sie jedoch unter anderem Namen. Für sie ist sie einfach »Der Sand«. Auf einem Gebiet, das der Fläche Frankreichs, Belgiens und der Niederlande zusammengenommen entspricht, erstreckt sie sich von Oman und den Emiraten quer über Saudi-Arabien bis in den Jemen hinein. Der unaufhörliche Wind formt berghohe Wanderdünen. Manche stehen allein. Andere schließen sich zu Ketten zusammen, die sich über Hunderte von Kilometern erstrecken. Im Sommer steigt die Temperatur oft auf über sechzig Grad Celsius, um nachts auf fünfunddreißig Grad abzukühlen. Hier gibt es fast keinen Regen, nur wenig Flora und Fauna und kaum Menschen – außer Beduinen, Räuberbanden und al-Qaida-Terroristen, die sich ungehindert in den Grenzregionen bewegen. Im Sand spielt die Zeit kaum eine Rolle. Noch heute wird die Einheit bemessen an der Länge des Weges hin zum nächsten Brunnen.
Wie die meisten Saudi-Araber hatte Nadia al-Bakari noch nie einen Fuß in das Leere Viertel gesetzt. Das änderte sich drei Stunden nach ihrer Entführung, auch wenn Nadia nichts davon wahrnahm. Seit ihr das Anästhetikum Ketamin injiziert worden war, glaubte sie, durch die vergoldeten Räume ihrer Jugend zu irren. Dabei erschien ihr kurz auch ihr Vater, er trug das traditionelle Gewand und die finstere Miene eines Beduinen. Sein Leib war von Kugeln durchlöchert. Er zwang Nadia dazu, seine Wunden zu berühren, und schimpfte sie dann dafür, dass sie ausgerechnet mit den Männern gemeinsame Sache machte, die ihn so zugerichtet hatten. Dafür würde sie bestraft werden müssen, sagte er, genau wie Rena für die Entehrung ihrer Familie hatte büßen müssen. Das sei Allahs Wille. Dagegen lasse sich nichts machen.
In dem Augenblick, in dem ihr Vater sie zum Tode verurteilte, spürte Nadia, dass sie durch verschiedene Bewusstseinsebenen nach oben zu schweben begann. Das war ein langsames Emporsteigen wie das eines Tauchers aus großer Tiefe. Als sie endlich die Oberfläche erreichte, zwang sie sich dazu, die Augen zu öffnen und tief Luft zu holen. Danach registrierte sie ihre Umgebung. Sie lag seitlich auf einem Teppich, der nach Männerschweiß und Kamel roch. Ihre Hände waren gefesselt, und sie trug ein dünnes weißes Baumwollgewand. Es leuchtete im Mondschein wie die salafistische Kandura des Mannes, der sie bewachte. Er trug ein Scheitelkäppchen ohne weitere Kopfbedeckung und war mit einem Sturmgewehr mit gebogenem Magazin bewaffnet. Trotz alldem war sein Blick für einen Araber ungewöhnlich sanft. Nadia brauchte einige Sekunden, um sich darüber klar zu werden, woher sie diese Augen kannte. Sie gehörten Ali, dem Talib von Scheich Marwan bin Taijib.
»Wo bin ich?«, fragte sie.
Er antwortete wahrheitsgemäß. Das war kein gutes Zeichen.
»Wie geht es Safia?«
»Der geht’s gut«, antwortete der Talib , trotz der Umstände lächelnd.
»Wann soll das Baby kommen?«
»In drei Monaten«, sagte er.
» Inschallah wird es ein Junge.«
»Tatsächlich sagen die Ärzte, dass wir eine Tochter bekommen werden.«
»Sie scheinen nicht enttäuscht zu sein.«
»Das bin ich nicht.«
»Hat sie schon einen Namen?«
»Wir wollen sie Hanan nennen.«
Im Arabischen bedeutete das »Barmherzigkeit«. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung.
Der Talib fing an, halblaut Koransuren aufzusagen. Nadia wälzte sich auf den Rücken und sah zu den Sternen auf. Sie schienen so nahe zu sein, als ob man sie mit ausgestreckter Hand hätte berühren können. Einen Augenblick lang war nur Alis Gemurmel und irgendein fernes Surren zu hören. Im ersten Augenblick glaubte sie, das sei eine weitere durch das
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