Der Hirte (German Edition)
hatten keine Worte mehr gewechselt. Sie hatten nur einen langen Blick ausgetauscht. Rainald hatte ihm nicht standhalten können. Von den fünf Trecks, die er in der Zeit zwischen Sophias Tod und dem ersten Schnee überfallen hatte, waren drei von Ratsherr Dielsdorfer gewesen. Er hatte den Mann vermutlich ruiniert.
Dielsdorfer bellte einen Befehl. Die Stadtwächter spannten die Bögen noch weiter.
„Verschont die Kinder!“, schrie Rainald. „Um Christi Willen, verschont die Kinder.“ Er glaubte das Knarren der aufs äußerste gespannten Bögen zu hören. Gott hatte keinen Handel abgeschlossen.
Etwas schnappte nach ihm und verfehlte ihn. Er spürte heißen Atem an seiner Seite. Vor seinen Augen tanzten schwarze Muster, zwischen ihnen das Dreiecksgesicht eines Wolfs, zusammengesetzt aus der Schwärze und dem Weiß des Schnees. Rainalds stöhnte und schlug einen Haken. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Brustkorb stand in Flammen. Die Pfeilspitzen folgten seinem Manöver.
„Schont die Kinder“, keuchte er. Er keuchte es mehr zu sich selbst. „Schont sie. Sie haben nichts falsch gemacht. Ich bin es, der alles falsch gemacht hat. Tötet mich, aber schont die Kinder.“
Er spürte Blankas kleine Hände, die ihn fast erwürgten. Er spürte Johannes, der trotz der Schmerzen versuchte, sich steif zu machen, damit Rainald ihn leichter tragen konnte. Er starrte zur Stadtmauer hinauf, noch sechzig, noch fünfzig Schritt entfernt, starrte in die Augen des Mannes, der ihn einst willkommen geheißen und dem er allen Schaden zugefügt hatte, den er nur konnte. Dielsdorfer grinste. Er nickte ihm zu.
Die Bogenschützen feuerten.
***
Rainald sah die Pfeile heranfliegen. Seine Beine hatten den Bodenkontakt verloren, die Kinder auf seinen Armen wogen nichts mehr. Nur noch ein einziges Geräusch war hörbar: Sommerwind, der durch die Baumwipfel strich. Er spürte die warme Brise auf der Stirn. So war es also, wenn man starb. Er hatte es sich schlimmer vorgestellt. Er hörte die Pfeile einschlagen, aber er spürte keinen Schmerz.
***
Der Wolf an Rainalds Seite jaulte auf und überschlug sich. Von seiner anderen Seite war das gleiche, abrupte Japsen zu hören und das Knirschen, mit dem sich ein Körper in den Schnee bohrte. Rainald hörte die Pfeile an sich vorbeisirren. Plötzlich spürte er den Boden wieder. Das Gewicht der Kinder ließ ihn stolpern. Weitere Wölfe jaulten auf, weitere Geräusche von einschlagenden Pfeilen ertönten hinter ihm. Das Stadttor war ein Wall aus grauem Holz mit Eisenbändern und Beschlagnägeln. Er hörte das Todesröcheln der Wölfe und dazwischen das Geifern und fast menschliche Stöhnen der Bestie, die ihr Anführer gewesen war. Rainald konnte nicht anders – er sah sich im Laufen um.
Der Hund hatte die letzten beiden Wölfe überholt. Diese zuckten fast gleichzeitig zusammen und rollten über den Boden, schlagende Läufe, tot, bevor sie den Boden berührt hatten. Der Hund rannte. Rainald sah seine wahnsinnigen Augen, den aufgerissenen Rachen, die Zähne. Pfeile schlugen neben ihm in den Boden. Es sah aus, als würde er nicht einmal ausweichen; es war, als würde etwas die Geschosse von ihm ablenken, ein unsichtbarer Schutzschild aus Bösartigkeit und Wahnsinn. Er kam näher, er wuchs und wuchs und schien in Rainalds Augen so groß zu werden wie ein Pferd. Rainald warf sich herum. Einer der Torflügel stand zwei Mannsbreiten offen. Rainald spürte den Atem seines Verfolgers. Johannes schrie auf. Rainald machte einen verzweifelten Satz. Er würde es nicht schaffen.
Das Tor knallte hinter Rainald zu. Etwas prallte dumpf von draußen dagegen und erschütterte es. Die Stadtwachen fuhren zurück. Von jenseits des Tores kam ein Heulen, das mehr mit dem Herzen als mit den Ohren zu hören war und vor Hass triefte. Es erbebte noch einmal, als sich ein schwerer Körper dagegenwarf. Die Ketten rasselten. Dann war es still. Die Stadtwachen bekreuzigten sich.
Rainald drehte sich um und verstand erst jetzt, dass er es geschafft hatte. Seine Knie gaben nach. Er drückte sie durch. Die Stadtwachen um ihn herum starrten ihn mit großen Augen an. Blanka wimmerte. Er presste sie sich an sich. Johannes stöhnte. Er rückte ihn auf seiner Schulter zurecht. Er merkte, wie der Boden zu schwanken anfing, erkannte, dass er es war, der schwankte, und holte Atem. Die Ränder seines Gesichtsfelds begannen sich auflösen. Er drängte die Gräue zurück. Sein Herz stach.
Jemand schob die Stadtwachen beiseite und
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