Der Hirte (German Edition)
Arm gelegen war, bewegte sich.
„Sind wir im Himmel?“, fragte sie undeutlich.
„Nein, meine Kleine.“
„Ich höre aber Musik.“
„Du hörst die Glocken der Simeonskirche“, seufzte Rainald. „Wenn wir aus dem Wald kommen, liegt Trier vor uns.“
Er fing einen Seitenblick von Schwester Venia auf. Er gab ihn zurück. Sie lächelte und nickte ihm zu. Er zuckte mit den Schultern. Seine Seele war so wund, dass es nichts mehr zu geben schien, was sie noch mehr verletzen konnte. Das dachte er, bis er aus dem Augenwinkel einen Schatten sah, der zwischen zwei Baumstämmen verschwand.
„Sie läuten zur heiligen Messe“, sagte Schwester Venia. „Ich gäbe was drum, jetzt unter den Messbesuchern zu sein und Gott für unsere Rettung danken zu können.“
„Zwischen dem Waldrand und der Stadt liegen mindestens fünfhundert Schritt freies Feld“, sagte Rainald.
„Ich weiß“, sagte Schwester Venia.
Sie gingen weiter, plötzlich langsam, als käme es nun nicht mehr darauf an. Es kam nicht mehr darauf an, dachte Rainald. Sie waren fünfhundert Schritt von der Rettung entfernt, nur, dass der sichere Tod dazwischen stand. Die guten Bürger der Stadt würden auch nicht mehr das Vergnügen haben, ihn hängen zu sehen. Wenn es ein Vergnügen geben würde, dann das, den Wölfen dabei zuzusehen, wie sie ihn, seine Kinder und eine junge Klosterschwester auffraßen. Leider würden sie es nicht mitbekommen, weil sie allesamt in der Kirche waren.
„Danke, Gott, dass Du bis hierher die Hand über uns gehalten hast“, sagte Schwester Venia, und Rainald schämte sich für seine zynischen Gedanken.
Etwas in ihm schien sich gelöst zu haben. Er schrieb es der Erschöpfung und dem Wissen um den nahen Untergang zu; gleichzeitig war ihm klar, dass es tatsächlich daran lag, dass er die Momente im Saal seiner Burg noch einmal durchlebt hatte und dass er sein Leid nicht mehr hatte zurückhalten können. Nicht Johannes hatte damals versagt, sondern er. Seine Aufgabe wäre es gewesen, sein Heim und seine Familie zu verteidigen. Dass er in aller Unschuld versagt hatte, weil er nicht anders gekonnt hatte als auf die Jagd zu gehen, änderte nichts daran. Menschen machten Fehler, Menschen versagten. Es war nicht die Kunst, das Versagen zu vermeiden; die wahre Kunst war es, darum zu wissen und weiterzumachen. Er hatte nicht weitergemacht in den vergangenen Monaten; er hatte eine endlose Schleife in heulendem Schmerz, blinder Wut und gähnender Sinnlosigkeit gedreht. Alles, was er während dieser Zeit getan hatte, hatte ihn keinen Schritt weit, keinen Gedanken lang von jenem Moment entfernt, an dem er vor Sophias Leichnam in die Knie gesunken war und gewünscht hatte zu sterben.
Er empfand eine undeutliche Art von Zärtlichkeit gegenüber Schwester Venia, die ihn aus diesem Zustand befreit hatte. Er empfand eine ganz deutliche Scham, wenn er daran dachte, wie er sich Johannes gegenüber verhalten hatte.
Und er empfand ein ganz und gar überwältigendes Bedauern darüber, die Zeit nicht besser genutzt zu haben. In ein paar Augenblicken würden sie alle tot sein.
Die Glocken schwiegen. Die Bäume lichteten sich und gaben den Blick auf den Fluss frei und die Stadt, die sich an sein Ostufer schmiegte. Rainald erwartete, dass die Wölfe in das Schweigen einfallen und ein Triumphgeheul anstimmen würden, doch die Wölfe blieben stumm. Das Wasser des Flusses war schwarz in der Dämmerung, die alte Römerbrücke ein schneegezuckerter weißer Finger zum anderen Ufer hinüber. Das Gelände fiel sanft zur Stadt hin ab. Als hätte jemand mit einem besonderen Sinn für Humor ihnen eine bessere Chance geben wollen, waren sie an einer Art waldigen Halbinsel herausgekommen, die in die Felder hinein ragte. An allen anderen Stellen traten die Bäume viel weiter zurück. Die Gebäude der Stadt ragten zum Greifen nah aus der schmalen Ebene vor dem Flussufer empor, rauchverschleiert von den Feuern in den Kaminen, blau verschwimmend im schwindenden Licht.
„Es gibt eine Möglichkeit“, sagte Schwester Venia.
„Papa?“
„Ja, meine Kleine?“
„Werden uns die Wölfe fressen?“
Rainald wurde sich des Blicks seines Sohnes bewusst. Er wandte sich Blanka zu, die ihn mit dunklen Augen musterte.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er. Sie erwiderte nichts, doch ihr Blick schien zu sagen, dass sie wusste, er hatte sich um die Antwort gedrückt. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Johannes erschauerte. Er weint nicht mal, dachte er undeutlich. Er weiß, dass wir
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