Der Hirte (German Edition)
bereits wandelnde Tote sind, und er weint nicht mal mehr. Plötzlich wünschte er sich so sehnlich, niederzuknien und seinen Sohn an sich zu drücken, dass seine Beine schwach wurden. Es gab keinen Gott, dem er einen Handel anbieten konnte; wenn es einen gegeben hätte, er hätte ihm alles angeboten im Austausch dafür, mit seinen Kindern weiterleben zu dürfen. Er ertappte sich dabei, wie er dennoch betete: Herr, hilf uns. Nimm Dir, was immer Du willst, aber hilf uns!
„Die Obstbäume“, sagte Schwester Venia. „Sie sind ganz leicht zu erklettern. Ein gichtkranker Abt käme hinauf. Nur ein Wolf nicht.“
„Nein“, sagte Rainald. Die Stimme, die die Gebete in seinem Herzen aufsagte, stockte und sagte dann ganz deutlich: Diesen Handel habe ich nicht gemeint, Herr.
„Aber es ist die einzige Möglichkeit. Du hast doch gesehen, wie gut ich im Klettern bin. Und ich laufe wie ein Hase.“
„Nein.“
„Ich laufe als erste los. Sie werden sich auf die erste Bewegung stürzen, die sich außerhalb der Bäume zeigt. Diese Bewegung werde ich sein. Ich renne zu der Streuobstwiese hinüber. Du läufst mit den Kindern los, sobald sie auf meiner Fährte sind. Wenn wir Glück haben, seid ihr hinter der Mauer und ich auf einem der Bäume, bis den Bestien klar geworden ist, dass wir sie hereingelegt haben.“
„Nein“, sagte Rainald.
„Es kann funktionieren!“
„Wir versuchen es zusammen oder gar nicht.“
„Manchmal muss man eine Entscheidung treffen. So, wie du vorhin auf der Lichtung eine getroffen hast. So, wie Johannes eine getroffen hat, als er sich mit Blanka in der Truhe versteckte, anstatt zu versuchen, dich zu erreichen.“
„Ihr habt keine Chance. Ich werde Euch nicht opfern“, sagte Rainald heiser. „Nicht um meinetwillen.“
„Du opferst mich nicht. Und es geht um die Kinder, nicht wahr?“
„Ich lasse es nicht zu“, sagte Rainald. „Das ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit.“
Rainald ermaß die Strecke. Er sah die Straße, die von weiter rechts kam und sich in zwei, drei weiten Kurven auf die Stadtmauer zu wand; er sah das geschlossene Tor und meinte, die Bewegungen der Wächter auf dem Wehrgang wahrzunehmen und das Glosen des Feuers in seinem Becken auf der am weitesten vorgeschobenen Befestigung; sein Blick streifte den Galgen, der zwischen dem Wald und der Stadt stand, zerfranste Stricke von seinem Querbalken baumelnd. Er zog die Schultern hoch. Er gab seinen Beinen den Befehl zu laufen, doch sie bewegten sich nicht von der Stelle. Er erinnerte sich, mehr als einmal brüllend und das Schwert schwingend in ein Getümmel gesprengt zu sein, dessen Ausgang eigentlich auch nur der sichere Tod hatte sein können, und es war ihm jedes Mal gelungen, seine Furcht zu bezwingen. Warum diesmal nicht? Blanka brachte ihren Mund an sein Ohr.
„Sieht uns Mama jetzt zu?“, fragte sie.
Die Wölfe heulten so unvermittelt los, dass Rainald zusammenfuhr. Sein Herz begann zu trommeln und schnürte ihm den Atem ab. Das Jagdsignal …!
„Ja“, stieß er hervor. „Sie sieht uns zu und drückt uns die Daumen!“
Er rannte los.
***
Die Wölfe schossen aus dem Wald heraus, zehn, zwölf, fünfzehn schlanke Todesbringer, glitten über den Schnee dahin und schwenkten in einem geradezu eleganten Manöver nach links, um ihrer Beute den Weg abzuschneiden. Sie rannten; Rainald wusste, dass sie noch nicht einmal halb so schnell liefen, wie sie eigentlich konnten. Er fluchte und versuchte, schneller zu laufen. Johannes, der neben ihm herhastete, drängte sich unwillkürlich näher an ihn heran, und Rainald stolperte fast über ihn.
„Lauf!“, schrie er. Johannes spurtete noch schneller und überholte ihn. „Lauf!“
Der Junge sah über die Schulter zu seinem Vater hoch. Und voller Entsetzen sah Rainald, wie Johannes’ Beine durcheinander gerieten, wie er ins Taumeln geriet und stürzte. Rainald brüllte auf und kam rutschend zum Halt. Sie hatten von Anfang keine Chance gehabt, aber zu scheitern, kaum dass sie losgelaufen waren …
Schwester Venia warf sich herum, riss sich das Gebende vom Kopf und rannte schreiend und Arme und Schleier wedelnd auf die Wölfe zu. Ihr Haar war so kurz geschoren wie das eines Mannes, und Rainald sah zum ersten Mal, wie jung sie tatsächlich noch war.
„Kommt zurück!“, schrie er.
Sie hörte nicht auf ihn. Johannes rollte sich herum und ächzte. Er hielt seinen Knöchel umklammert. Rainald zerrte ihn in die Höhe. Der Junge knickte ein und fiel gegen ihn. Rainald warf sein Schwert
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