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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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gefunden hatte.
    Auch mir knurrte der Magen, aber vor allem machte ich mir Sorgen, was als Nächstes kommen würde. Jetzt, wo wir den Zug verlassen hatten, konnte Barley jeden öffentlichen Fernsprecher benutzen, um Mrs Clay, Rektor James oder vielleicht gleich eine Armee Gendarmen zu rufen, die mich in Handschellen zurück nach Amsterdam bringen würden. Argwöhnisch sah ich zu ihm auf, aber der Großteil seines Gesichts wurde von seinem Sandwich verdeckt. Als er dahinter auftauchte, um ein bisschen Orangensprudel zu trinken, sagte ich: »Barley, ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust.«
    »Was soll das nun wieder?«
    »Ruf bitte niemanden an. Ich meine, bitte, Barley, verrat mich nicht. Ich fahre von hier aus weiter Richtung Süden, komme, was wolle. Du verstehst doch, dass ich nicht nach Hause kann, ohne zu wissen, wo mein Vater ist und was ihm zugestoßen sein könnte, oder?«
    Er nahm einen kräftigen Schluck. »Das verstehe ich.«
    »Bitte, Barley.«
    »Für wen hältst du mich eigentlich?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich, jetzt völlig durcheinander. »Ich dachte, du wärst sauer auf mich, weil ich davongelaufen bin, und hättest immer noch das Gefühl, dass du mich zurückbringen musst.«
    »Denk doch mal nach«, sagte Barley. »Wenn ich das wollte, würde ich längst mit dir im Schlepp auf meinem Weg zurück zu den Vorlesungen morgen sein – und einer gehörigen Strafpredigt von James. Stattdessen stehe ich hier, aus Galanterie – und Neugier, zugegeben – dazu gezwungen, eine Lady in den Süden Frankreichs zu begleiten, um darauf zu achten, dass sie nicht ihren Hut verliert. Glaubst du, das würde ich mir entgehen lassen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich noch einmal, diesmal aber eher dankbar.
    »Wir fragen besser nach dem nächsten Zug Richtung Perpignan«, sagte Barley und faltete dabei entschieden sein Sandwichpapier zusammen.
    »Woher weißt du…?«, fragte ich erstaunt.
    »Oh, halt dich nicht für so geheimnisvoll.« Barley sah trotz allem genervt aus. »Habe ich nicht den Text in der Vampirsammlung für dich übersetzt? Wohin könntest du wollen, wenn nicht in dieses Kloster in den Pyrenäen? Kenne ich meine Frankreichkarte nicht? Komm schon, fang jetzt bloß nicht an, so finster dreinzublicken. Es macht dein Gesicht so viel weniger piquante.« Und so gingen wir, Arm in Arm, ins bureau de change.
     
     
    »Als Turgut Bora Rossis Namen mit jenem unverwechselbaren Ton der Vertrautheit aussprach, hatte ich plötzlich das Gefühl, die Welt verschöbe sich in ihren Angeln und Farben und Formen arrangierten sich neu zu einem Bild fein verwobener Absurdität. Es war ganz so, als sähe ich einen bekannten Film, und plötzlich erschiene ein Schauspieler auf der Leinwand, der nie dazugehört hatte, sich nun aber nahtlos und ohne jede weitere Erklärung in das Geschehen einfügte.
    ›Sie kennen Professor Rossi?‹, fragte Bora nochmals im gleichen Ton.
    Ich war immer noch sprachlos, aber Helen hatte offenbar einen Entschluss gefasst. ›Professor Rossi ist Pauls Doktorvater am historischen Institut unserer Universität.‹
    ›Aber das ist unglaublich‹, sagte Turgut Bora langsam. ›Professor Rossi. Ich habe vor Jahren von ihm gehört.‹
    ›Sie haben von ihm gehört?‹, fragte ich. ›Heißt das, Sie haben von seiner Arbeit gehört, ihn aber nie persönlich kennen gelernt?‹
    ›Nein, ich habe ihn nie kennen gelernt‹, sagte Bora. ›Ich habe von ihm auf äußerst ungewöhnliche Weise gehört. Bitte, das ist eine Geschichte, die ich Ihnen erzählen muss, denke ich. Setzen Sie sich, werte Kollegen.‹ Selbst inmitten all dieser Unglaublichkeiten vergaß er seine Gastgeberrolle nicht und machte eine einladende Handbewegung. ›Es gibt hier etwas Außergewöhnliches…‹ Er brach gleich wieder ab und schien sich dann zum Fortfahren zu zwingen. ›Vor Jahren, als ich mich in dieses Archiv verliebte, fragte ich den Bibliothekar nach möglichen zusätzlichen Informationen. Er sagte mir, dass nach seiner Erinnerung nie jemand die Dokumente eingesehen hätte, dass er aber glaube, sein Vorfahre – ich meine den Bibliothekar vor ihm – wisse mehr darüber. Da habe ich den alten Mann besucht.‹
    ›Lebt er noch?‹, keuchte ich.
    ›Oh nein, mein Freund. Es tut mir Leid. Er war damals schon schrecklich alt und starb, glaube ich, ein Jahr nach unserem Gespräch. Aber sein Gedächtnis war vorzüglich, und er erklärte mir, dass er die Sammlung unter Verschluss gehalten habe, weil sie ihm unheimlich

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