Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
hatte. Wir gingen etwa gegen neun zu Bett, denn es gab nicht viel zu tun, wollte man nicht den Hühnern lauschen oder das Licht über den durchhängenden Scheunendächern schwinden sehen. Auf dem Hof gab es nicht einmal elektrisches Licht. »Ist dir nicht aufgefallen, dass es hier keine Leitungen gibt?«, fragte Barley. Die Bäuerin gab uns eine Laterne und zwei Kerzen und wünschte uns eine Gute Nacht. Im Laternenlicht wuchsen die Schatten des polierten alten Mobiliars bis hoch zur Decke und beugten sich über uns. Die Stickerei an der Wand bewegte sich leicht im Luftzug. Nachdem er ein paarmal gegähnt hatte, legte sich Barley in seinen Kleidern aufs Bett und schlief gleich ein. Ich traute mich nicht, es ihm nachzutun, und ich hatte auch Angst, die Kerzen einfach brennen zu lassen. Am Ende blies ich sie jedoch aus und ließ nur die Laterne an, was die Schatten um mich herum noch schrecklich vertiefte und die Dunkelheit von außen gegen das Fenster drücken ließ. Weintriebe rieben sich an den Scheiben, die Bäume schienen sich näher heranzubeugen, und ein weiches, unheimliches Geräusch, das von Eulen oder Tauben stammen mochte, drang zu mir, die ich eingerollt auf meinem Bett lag. Barley schien weit entfernt. Ich war froh gewesen, dass unsere Betten so völlig voneinander getrennt waren, weil es so nicht zu Verlegenheiten kam, was unser Schlafarrangement anging, aber jetzt wünschte ich, wir lägen Rücken an Rücken.
    Nachdem ich lange genug so dagelegen hatte, dass ich mich in meiner Position wie erstarrt fühlte, sah ich nach und nach ein mildes Licht durchs Fenster über die Bodendielen kriechen. Der Mond ging auf, und ich spürte, wie die Angst allmählich von mir wich, ganz so, als käme da ein alter Freund, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich versuchte, nicht an meinen Vater zu denken; auf jeder anderen Reise hätte es er sein können, der in seinem ehrbaren Pyjama in dem anderen Bett lag, ein Buch neben sich auf der Decke. Er wäre der Erste gewesen, dem dieser alte Bauernhof aufgefallen wäre, der gewusst hätte, dass sein zentraler Teil noch aus der Römerzeit stammte, als dies die Provinz Aquitanien war, der von der netten Bauersfrau drei Flaschen Wein gekauft und mit ihr über ihre Weinberge gesprochen hätte.
    Ohne dass ich es wollte, dachte ich, während ich so dalag, darüber nach, was ich tun würde, wenn mein Vater seine Reise nach Saint-Matthieu nicht überlebte. Ich könnte unmöglich zurück nach Amsterdam fahren, dachte ich, und allein mit Mrs Clay in unserem Haus leben. Das würde meine Trauer nur umso schlimmer machen. Ich brauchte noch zwei Jahre, bis ich irgendwo an eine Universität gehen könnte. Wer würde sich bis dahin um mich kümmern? Barley würde in sein altes Leben zurückkehren, ich konnte von ihm nicht erwarten, sich auch weiter um mich zu sorgen. Rektor James kam mir in den Sinn, sein tiefes, trauriges Lächeln und die freundlichen Lachfalten um seine Augen. Dann dachte ich an Giulia und Massimo in ihrem umbrischen Landhaus. Ich sah, wie mir Massimo Wein einschenkte – »Und was studierst du, hübsche Tochter?« – und Giulia sagte, ich müsse das beste Zimmer bekommen. Sie hatten keine Kinder, und sie liebten meinen Vater. Wenn meine Welt aus den Angeln geriet, wollte ich zu ihnen gehen.
    Ich blies die Laterne aus, fühlte mich mutiger und ging auf Zehenspitzen ans Fenster, um nach draußen zu sehen. Ich konnte nur den Mond erkennen, halbiert an einem Himmel voller zerrissener Wolken. Quer über diesen Himmel segelte ein Umriss, den ich nur zu gut kannte – nein, er war schon wieder fort, und es war doch nur eine Wolke, oder? Die ausgebreiteten Flügel, der lang geschwungene Schwanz. Das Bild löste sich gleich wieder auf, dennoch lief ich zu Barley und lag stundenlang zitternd gegen seinen Rücken gedrängt, ohne dass er etwas davon merkte.
     
     
    »Wir brauchten fast den ganzen Morgen, um Mr Erozan in Boras orientalisches Wohnzimmer zu transportieren, wo er dann blass, aber gefasst auf einem der Diwane lag. Wir waren noch da, als Mrs Bora zu Mittag von der Arbeit kam. Sie trat forsch herein, mit je einer Einkaufstasche in den zierlichen Händen, die in Handschuhen steckten. Sie trug ein gelbes Kleid und einen mit Blumen besetzten Hut, was sie wie eine Osterglocke aussehen ließ. Ihr Lächeln war frisch und lieb, selbst noch, als sie uns alle in ihrem Wohnzimmer um einen daniederliegenden Mann stehen sah. Nichts, was ihr Mann tat, schien sie zu überraschen, dachte

Weitere Kostenlose Bücher