Der Historiker
Schöne an einer soliden marxistischen Ausbildung, an der teilzuhaben dir leider nicht vergönnt war. Glaube mir, Arbeitsfragen lassen sich in jedem Thema finden, wenn man nur genau genug hinsieht. Wobei das Osmanische Reich eine große Wirtschaftsmacht war und Dracula seine Handelsrouten und seinen Zugang zu den natürlichen Ressourcen in der Donauregion abschnitt. Mach dir keine Sorgen, es wird ein faszinierender Vortrag.‹
›Großer Gott‹, sagte ich endlich.
›Nein.‹ Sie schüttelte den Kopf. ›Keine Religion, nur die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.‹
Jetzt konnte ich nicht mehr anders und musste lachen und das Glühen ihrer dunklen Augen bewundern. ›Ich hoffe nur, zu Hause erfährt nie jemand davon. Ich kann mir gerade vorstellen, was mein Prüfungsausschuss dazu sagen würde. Andererseits glaube ich, dass Rossi die Sache gefallen würde.‹ Wieder musste ich lachen, als ich mir das spitzbübische Leuchten in Rossis hellblauen Augen vorstellte, dann wurde ich still. Der Gedanke an Rossi rührte an einen mittlerweile so wunden Punkt in meinem Herzen, dass ich es kaum mehr ertragen konnte. Das Büro, in dem ich ihn zuletzt gesehen hatte, lag auf der anderen Seite der Welt, und ich hatte allen Grund zu glauben, ihn nie wieder lebend zu Gesicht zu bekommen und womöglich nicht einmal zu erfahren, was mit ihm passiert war. Dieses Nie streckte sich eine Sekunde lang endlos und verzweifelt vor mir in die Ferne, dann schob ich den Gedanken zur Seite. Wir waren auf dem Weg nach Ungarn, um mit einer Frau zu sprechen, die Rossi, wie behauptet wurde, gekannt hatte, intim gekannt, und das lange, bevor ich überhaupt von ihm wusste. Zu der Zeit damals hatte er mitten in den Wirren seiner Suche nach Dracula gesteckt. Das war eine Spur, die wir nicht außer Acht lassen durften. Und wenn ich dazu eine Scharlatanerie begehen musste, dann würde ich das tun.
Helen hatte mich schweigend beobachtet, und ich verspürte nicht zum ersten Mal ihre unheimliche Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Sie bestätigte mein Gefühl, indem sie einen Moment später sagte: ›Das ist es doch wert, oder?‹
›Ja.‹ Ich sah zur Seite.
›Sehr gut‹, sagte sie sanft. ›Und ich freue mich, dass du meine Tante kennen lernen wirst, die eine wunderbare Person ist, und meine Mutter, die ebenfalls wunderbar ist, wenn auch auf andere Weise, und dass die beiden dich kennen lernen werden.‹
Ich sah schnell zu ihr hin. Die Sanftheit ihrer Stimme rührte an mein Herz, aber auf ihrem Gesicht lag bereits wieder die gewohnte ironische Schutzmaske. ›Wann fahren wir also?‹, fragte ich.
›Morgen früh holen wir unsere Visa ab und fliegen übermorgen, wenn es mit den Tickets klappt. Meine Tante hat gesagt, dass wir morgen, noch bevor es aufmacht, zum ungarischen Konsulat gehen und die Klingel an der Eingangstür drücken sollen, etwa gegen halb acht. Von dort aus können wir direkt in einem Reisebüro unsere Tickets buchen. Wenn es keine Plätze mehr gibt, müssen wir den Zug nehmen, was eine ziemliche Reise wäre.‹ Sie schüttelte den Kopf, aber meine plötzliche Vision eines stampfenden, klappernden Balkanzuges, der sich von einer alten Hauptstadt zur nächsten wand, ließ mich hoffen, dass die Flüge hoffnungslos überbucht waren, trotz der Zeit, die wir dadurch verlieren würden.
›Gehe ich recht in der Annahme, dass du mehr nach deiner Tante kommst als nach deiner Mutter?‹ Vielleicht war es einfach mein vorgestelltes Zugabenteuer, das mich Helen anlächeln ließ.
Sie zögerte nur eine Sekunde. ›Korrekt, mein lieber Watson. Ich gleiche meiner Tante sehr, zum Glück. Aber dir wird meine Mutter besser gefallen – den meisten geht das so. Und darf ich dich jetzt einladen, mit mir in unserem Lieblingsetablissement zu dinieren? Damit wir bereits mit deinem Vortrag anfangen können?‹
›Sicher‹, stimmte ich zu. ›Solange nicht wieder irgendwelche Zigeunerinnen auftauchen.‹ Mit vorsichtiger Ironie bot ich ihr meinen Arm, und sie tauschte ihre Zeitung gegen meine Unterstützung ein. Es war merkwürdig, dachte ich, als wir in den goldenen Abend der byzantinischen Straßen traten, dass es selbst in den besorgniserregendsten Zeiten des Lebens, der größten Trennung von Heim und Vertrautheit, diese Momente unleugbaren Glücks gab.«
Es war ein sonniger Morgen, als Barley und ich in Boulois den Frühzug nach Perpignan bestiegen.
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De Freitagsmaschine von Budapest nach Istanbul war alles andere als
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