Der Historiker
Yankee‹, sagte sie entschieden und nahm ihr Gepäck, bevor ich danach greifen konnte.
In der Hotelhalle war es ruhig und kühl. Marmor und Blattgold erinnerten an bessere Zeiten. Ich fand es angenehm und konnte nichts entdecken, weswegen Helen sich hätte schämen müssen. Einen Augenblick später dann wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal in einem kommunistischen Land war: An der Wand hinter der Rezeption hingen Fotografien von Regierungsmitgliedern, und die dunkelblaue Uniform des Personals hatte etwas bewusst Proletarisches. Helen trug uns ein und gab mir meinen Zimmerschlüssel. ›Meine Tante hat alles bestens arrangiert‹, sagte sie befriedigt. ›Sie hat eine Nachricht hinterlassen, dass sie um sieben herkommen und mit uns abendessen gehen wird. Vorher melden wir uns auf dem Kongress an. Und um fünf gibt es dort einen Empfang.‹
Ich war ein bisschen enttäuscht, dass sie uns nicht zu Hause bei sich bewirten und mir einen Einblick in das Leben der herrschenden Elite erlauben würde, aber dann erinnerte ich mich schnell daran, dass ich nun mal Amerikaner war und nicht damit rechnen sollte, dass sich mir überall die Türen sofort weit öffneten. Vielleicht war ich ein Risiko, eine Gefährdung oder zumindest eine Peinlichkeit. Das Beste würde sein, dachte ich, wenn ich mich ruhig verhielt und meinen Gastgebern so wenig Mühe wie möglich bereitete. Ich hatte Glück, überhaupt hier sein zu können, und das Letzte, was ich wollte, war, dass Helen oder ihre Familie wegen mir Unannehmlichkeiten bekamen.
Mein Zimmer in einem der oberen Stockwerke war einfach und sauber mit ein paar nicht ins Bild passenden Relikten einstiger Größe, pummeligen vergoldeten Putten oben in den Ecken und einem Marmorwaschbecken in der Form einer großen Muschel. Ich wusch mir die Hände darin und musste grinsen, als mein Blick von den einfältig lächelnden Putten auf mein schmales, ordentlich gemachtes Bett fiel, das in ein Armeelager gepasst hätte. Mein Zimmer lag diesmal auf einem anderen Stock als Helens – eine Vorsichtsmaßnahme der Tante? –, aber die Engel aus einer anderen Zeit mit ihren österreichisch-ungarischen Blumenkränzen würden mir schon Gesellschaft leisten.
Helen wartete in der Halle auf mich und führte mich schweigend durch die große Eingangstür des Hotels hinaus auf die große Straße. Sie trug wieder ihre hellblaue Bluse. Meine Sachen waren im Laufe unserer Reise immer knittriger geworden, während es ihr gelang, stets frisch gebügelt auszusehen, was ich als ein osteuropäisches Talent betrachtete. Helen hatte ihr Haar in einer weichen Rolle hochgesteckt. Sie war in Gedanken, als wir Richtung Universität schlenderten. Ich traute mich nicht zu fragen, was ihr durch den Kopf ging, aber nach einer Weile kam sie selbst damit heraus. ›Es ist so merkwürdig, plötzlich wieder hier zu sein‹, sagte sie und sah mich an.
›Mit einem komischen Amerikaner?‹
›Mit einem komischen Amerikaner‹, murmelte sie, und es klang nicht gerade wie ein Kompliment.
Die Universität war beeindruckend, und einige der Gebäude erinnerten mich an die Bibliothek, die wir bereits gesehen hatten.
Mir wurde etwas schummrig, als Helen auf unser Ziel deutete, einen großen, klassizistischen Saalbau, dessen ersten Stock Statuen umkränzten. Ich blieb stehen und sah zu ihnen hinauf. Ein paar Namen (die in ungarischer Schreibweise in den Stein gemeißelt waren) konnte ich lesen: Platon, Descartes, Dante, alle mit Lorbeer bekränzt und in klassische Roben gewandet. Die anderen waren mir weniger vertraut: Szent Istvan, Matyas Corvinus, Janos Hunyadi. Sie trugen Zepter oder mächtige Kronen.
›Wer sind die?‹, fragte ich Helen.
›Das erzähle ich dir morgen‹, sagte sie. ›Komm, es ist schon nach fünf.‹
Wir betraten die Halle, in der ein paar aufgeweckte junge Leute standen, die ich für Studenten hielt, und gingen hinauf in einen riesigen Raum im ersten Stock. Ich hatte ein leicht flaues Gefühl im Magen; der Raum war voll von Professoren in Schwarz, Grau oder Tweed mit schief sitzenden Krawatten – das mussten Professoren sein, sagte ich mir –, die rote Paprika und weißen Käse von kleinen Tellern aßen und dazu etwas tranken, das wie eine kräftige Medizin roch. Alles Historiker, dachte ich stöhnend, und obwohl ich einer von ihnen sein sollte, rutschte mir das Herz in die Hose. Helen wurde gleich von einer Gruppe Kollegen umringt, und ich sah, wie sie einem Mann kameradschaftlich die Hand
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