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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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voll. Wir machten es uns zwischen türkischen Geschäftsleuten in schwarzen Anzügen bequem, zwischen ungarischen Beamten in grauen Jacketts, die geheimnistuerisch die Köpfe zusammensteckten, und alten Frauen in blauen Mänteln und Kopftüchern – flogen diese Frauen zum Putzen nach Budapest oder besuchten sie ihre Töchter, die ungarische Diplomaten geheiratet hatten? Es war nur ein kurzer Flug, auf dem ich der Zugreise nachtrauern konnte, die wir hätten machen können.
    Diese Zugreise über Gleise, die sich in Bergwände gruben, durch riesige Wälder und um Felsgruppen liefen, Flüsse überquerten und durch alte Feudalstädte führten, würde, wie du weißt, bis zu einem späteren Zeitpunkt meines Lebens auf mich warten müssen. Bis heute habe ich sie zweimal gemacht. Für mich hat der Wechsel der Szenerie entlang dieser Strecke von der islamischen in die christliche, von der osmanischen in die österreichisch-ungarische Welt, vom Mulismischen zum Katholischen und Protestantischen etwas ungeheuer Geheimnisvolles. Städte und Architektur verändern sich Stück für Stück, die immer spärlicher werdenden Minarette weichen Kirchtürmen und -kuppeln, selbst Wälder und Flussufer verändern ihr Bild, so dass man zu glauben beginnt, auch in der Natur spiegele sich die Geschichte. Aber sieht der Hang einer türkischen Hügellandschaft wirklich so anders aus als die sanft abschüssige ungarische Wiese? Natürlich nicht, und doch lässt sich der Unterschied, den man zu sehen glaubt, so wenig aus dem Blick verbannen wie die Historie, die parallel dazu im Kopf mitschwingt. Bei meinen späteren Reisen würde ich die Landschaft einmal friedlich milde und dann wieder blutgetränkt sehen, denn das ist der andere Streich, den einem die historische Sicht spielt: dass man unerbittlich zwischen Gut und Böse, Krieg und Frieden hin und her gerissen wird. Ob ich mir den osmanischen Feldzug über die Donau oder den früheren Hunnensturm aus dem Osten vorstelle, immer drangsalierten mich miteinander in Konflikt stehende Bilder: ein abgetrennter Kopf, der unter Triumph- und Hassgeschrei in ein Lager getragen wird, und dann eine alte Frau – vielleicht eine Vorfahrin der Frauen, deren faltige Gesichter ich damals im Flugzeug zu sehen bekam –, die ihrem Enkel etwas Wärmeres anzieht, ihn in die kindliche türkische Wange zwickt und mit der anderen Hand dafür sorgt, dass das Wildgericht auf dem Herd nicht anbrennt.
    Aber diese Bilder lagen damals noch in der Zukunft, und während unseres Fluges sah ich wehmütig auf das Panorama unter uns hinunter, ohne zu wissen, was es barg und welche Gedanken es später einmal in mir hervorrufen würde. Helen als erfahrenere und weniger entflammbare Reisende nutzte die Gelegenheit und holte in ihren Sitz gekuschelt etwas Schlaf nach. Zwei Nächte lang hatten wir bis spät an unserem Restauranttisch gesessen und an meinem Vortrag für Budapest gearbeitet. Ich musste mehr über Draculas kriegerische Auseinandersetzungen mit den Türken lernen, als mir bis dahin gefallen hatte – oder auch nicht –, wobei das nicht viel bedeutete. Ich hoffte nur, dass niemand mit Nachfragen kommen würde, wenn ich den halb gelernten Stoff vorgetragen hätte. Es war bemerkenswert, was Helen alles wusste, und ich fragte mich von neuem, wie ihr Dracula-Studium von der trügerischen Hoffnung hatte gespeist werden können, einem Vater damit eins auszuwischen, den sie kaum so nennen konnte. Als ihr Kopf im Schlaf an meine Schulter rollte, ließ ich ihn dort ruhen und versuchte nur, den Duft ihrer Locken – ungarisches Shampoo? – nicht zu tief einzuatmen. Sie war müde. Ich bewegte mich nicht, während sie schlief.
    Mein erster Eindruck von Budapest, den ich auf der Taxifahrt vom Flughafen in die Stadt gewann, war der großer Noblesse. Helen erklärte mir, dass wir in einem Hotel in der Nähe der Universität auf dem Ostufer der Donau, in Pest, wohnen würden, aber sie hatte den Fahrer offenbar gebeten, uns ein Stück die Donau entlangzufahren, bevor er uns am Hotel absetzte. Gerade noch hatten wir ehrwürdige Straßen aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert überquert, die hier und da durch eine aus dem Rahmen fallende Jugendstil-Fantasie oder einen ungeheuer alten Baum belebt wurden, und schon steuerten wir auf die Donau zu. Sie war gewaltig. Ich war auf ihre Ausmaße nicht vorbereitet gewesen, mit diesen mächtigen Brücken, die sie überspannten. Auf unserer Seite des Flusses erhoben sich die unglaublichen

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