Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
schüttelte, dessen weiße Pompadourfrisur mich an einen Pudel erinnerte. Fast schon wollte ich ans Fenster treten und so tun, als betrachtete ich die herrliche Fassade der gegenüberliegenden Kirche, als Helen kurz nach meinem Ellbogen griff – war das klug von ihr? – und mich in die Menge steuerte.
    ›Das hier ist Professor Sandor, der Dekan der historischen Fakultät der Universität Budapest und unser bedeutendster Kenner der mittelalterlichen Geschichte‹, erklärte sie mir und deutete auf den Pudel, und ich beeilte mich, mich vorzustellen. Meine Hand wurde mit eisernem Griff zusammengequetscht, und Professor Sandor gab der großen Ehre Ausdruck, die ich der Konferenz mit meiner Teilnahme erwiese. Ich fragte mich kurzzeitig, ob er der Freund der geheimnisvollen Tante war. Zu meiner Überraschung sprach er ein klares, wenn auch langsames Englisch. ›Wir freuen uns sehr‹, sagte er mit warmer Stimme, ›und sind gespannt auf Ihren Vortrag morgen.‹
    Ich sagte, auch ich fühlte mich geehrt, hier auf dem Kongress sprechen zu dürfen, und hielt dabei vorsichtig Helen im Auge.
    ›Ausgezeichnet‹, dröhnte Professor Sandor. ›Wir haben großen Respekt vor den Universitäten Ihres Landes. Mögen unsere beiden Länder in Frieden und Freundschaft zusammenleben, Jahr um Jahr.‹ Er prostete mir mit seinem Glas zu, in dem sich die klare medizinische Flüssigkeit befand, die ihren Geruch überall verbreitete, und ich hob meinerseits das Glas, das auf mysteriöse Weise in meine Hand gelangt war. ›Und wenn es etwas gibt, mit dem wir Ihnen den Aufenthalt in unserem geliebten Budapest glücklicher gestalten können, müssen Sie es uns sagen.‹ Seine großen dunklen Augen, die in seltsamem Kontrast zu den weißen Haaren in seinem alternden Gesicht leuchteten, erinnerten mich einen Moment lang an Helens, und ein Gefühl von Sympathie für ihn stieg in mir hoch.
    ›Ich danke Ihnen, Professor‹, sagte ich ernst, und er schlug mir mit seiner großen Hand auf den Rücken.
    ›Bitte, kommen Sie, essen Sie, trinken Sie, und wir reden.‹ Gleich darauf jedoch verschwand er, um anderen Pflichten nachzukommen, und ich fand mich in der Mitte eifriger Fragen anderer Fakultätsmitglieder und Tagungsgäste wieder, von denen einige noch jünger zu sein schienen als ich. Sie drängten sich um mich und Helen, und nach und nach konnte ich im entstandenen Stimmengewirr auch deutsche und französische Wortfetzen ausmachen, dazu etwas, das wie Russisch für mich klang. Es war eine lebhafte Gruppe, ja, charmante Leute, fast vergaß ich meine Nervosität. Helen stellte mich mit einer distanzierten Freundlichkeit vor, die, wie ich dachte, dem Anlass entsprechend genau die richtige Note anschlug. Mit sanfter Bestimmtheit erklärte sie, woran wir zusammen arbeiteten und worüber wir bald schon einen Aufsatz in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlichen würden. Auch um sie sammelten sich neugierige Gesichter, die schnelle Fragen auf Ungarisch stellten, und ihre Wangen gewannen etwas Farbe, während sie Hände schüttelte und sogar die Wangen einiger alter Bekannter küsste. Man hatte sie eindeutig nicht vergessen – aber wer könnte das auch?, dachte ich. Neben Helen gab es noch einige andere Frauen im Raum, ein paar davon älter als sie und ein paar ziemlich jung, aber sie stach sie alle aus. Sie war größer, lebendiger, mehr im Gleichgewicht mit ihren breiten Schultern, dem so schön geformten Kopf mit den schweren Locken und ihrem Ausdruck lebhafter Ironie. Ich wandte mich einem der ungarischen Fakultätsmitglieder zu, um sie nicht unverwandt anzustarren. Das feurige Getränk fing langsam an, sich in meinen Adern bemerkbar zu machen.
    ›Ist so ein Zusammentreffen typisch für eine Tagung hier?‹ Ich wusste nicht genau, was ich damit meinte, aber es war eine Frage, die ich stellen konnte, um meine Augen von Helen lösen zu können.
    ›Ja‹, sagte mein Gegenüber stolz. Es war ein kleiner Mann von etwa sechzig Jahren mit grauem Jackett und grauer Krawatte. ›Wir haben viele internationale Kongresse hier an der Universität, besonders jetzt.‹
    Ich wollte gerade fragen, was er mit ›besonders jetzt‹ meinte, aber Professor Sandor tauchte plötzlich wieder auf und führte mich zu einem gut aussehenden Mann, der mich offenbar sehr gern kennen lernen wollte. ›Das ist Professor Géza Jozsef‹, erklärte Sandor. ›Er würde gern Ihre Bekanntschaft machen.‹ Helen drehte sich in diesem Moment zu mir um, und ich sah einen

Weitere Kostenlose Bücher