Der Historiker
Sohn zu überbringen.‹ Ich spürte, wie ich zu meinem Ärger rot wurde, versprach aber, diesem Wunsch nachzukommen. ›Jetzt würde sie uns gern in ein Restaurant führen, das dir sehr gefallen wird, eine Kostprobe des alten Budapest.‹
Minuten später saßen wir zu dritt hinten im Auto der Tante – ich nahm an, es gehörte ihr; nebenbei gesagt, war es nicht gerade ein proletarisches Auto –, und Helen wies, von ihrer Tante dirigiert, auf die verschiedenen Sehenswürdigkeiten hin. Ich sollte sagen, dass Tante Éva bei unseren Treffen nicht ein einziges Wort Englisch sprach, wobei ich den Eindruck hatte, dass auch das wie alles andere sehr eine Frage des Prinzips war. Ein antiwestliches Protokoll vielleicht? Wenn Helen mit mir sprach, schien Tante Éva wenigstens teilweise zu verstehen, worum es ging, noch bevor ihr Helen die Übersetzung geliefert hatte. Es war wie eine linguistische Deklaration, dass alles Westliche mit einer gewissen Distanz zu behandeln sei, sogar einer leichten Abscheu, wobei ein einzelner Westler aber dennoch ein guter, netter Mensch sein konnte, der die volle ungarische Gastfreundschaft verdiente. Mit der Zeit gewöhnte ich mich so sehr daran, durch Helen mit ihr zu kommunizieren, dass ich manchmal schon fast glaubte, ihre Daktylus-Wellen zu verstehen.
Einige Gespräche zwischen uns brauchten keinen Dolmetscher. Nach einer weiteren wunderbaren Fahrt am Fluss entlang kamen wir über eine Hängebrücke, die Széchenyi lânchid, wie ich später lernte, ein ingenieurtechnisches Wunder aus dem neunzehnten Jahrhundert, das nach einem der großen Verschönerer Budapests benannt worden war, dem Grafen Istvân Széchenyi. Als wir auf die Brücke kamen, überflutete das von der Donau reflektierte Abendlicht die ganze Szenerie, so dass die auserlesene mächtige Burg und die Kirchen in Buda, an dessen Ufer wir hinüberfuhren, zu einem Relief aus Gold und Braun wurden. Die Brücke selbst war ein eleganter Monolith, der an beiden Enden von ruhig daliegenden Löwen bewacht und von zwei imposanten Triumphbögen getragen wurde. Mein bewunderndes Luftschnappen ließ Tante Éva lächeln, und auch Helen, die zwischen uns beiden saß, lächelte stolz. ›Es ist eine wundervolle Stadt‹, sagte ich, und Tante Éva drückte mir den Arm, als wäre ich eines ihrer erwachsenen Kinder.
Helen erklärte mir, ihre Tante lege Wert darauf, dass ich über den Wiederaufbau der Brücke Bescheid wisse. ›Budapest wurde im Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen‹, sagte sie. ›Eine unserer Brücken ist immer noch nicht ganz wiederhergestellt, und viele Gebäude wurden beschädigt. Immer noch werden überall in der Stadt einzelne Dinge wieder aufgebaut. Aber diese Brücke wurde zur – wie nennt man es? – Hundertjahrfeier ihrer Erbauung wieder in Stand gesetzt, im Jahre 1949, und wir sind sehr stolz darauf, ich ganz besonders, weil meine Tante geholfen hat, den Wiederaufbau zu organisieren.‹ Tante Éva lächelte und nickte und schien sich dann erst daran zu erinnern, dass sie nichts von alldem verstehen sollte.
Einen Moment später schon tauchten wir in einen Tunnel, der fast unter der Burg selbst durchzuführen schien, und Tante Éva erklärte uns, dass sie eines ihrer Lieblingsrestaurants für uns ausgesucht habe, ein ›wirklich ungarisches‹ Lokal in der Attila Jozsef utca. Die Budapester Straßennamen erstaunten mich immer noch, einige klangen in meinen Ohren einfach nur fremd oder exotisch, andere aber, wie der nun, dufteten nach einer Vergangenheit, die, wie ich gedacht hatte, nur noch in Büchern lebte. Die Attila-Jozsef-Straße stellte sich als angenehm weit und stattlich wie der Großteil der Stadt heraus, keinesfalls als matschiger Pfad, der durch Barbarenlager führte, in denen Hunnen in ihren Sätteln saßen und aßen. Das Restaurant war ruhig und elegant eingerichtet, und der maître kam herbeigeeilt, um Tante Éva zu begrüßen. Sie schien diese Art Aufmerksamkeit gewöhnt zu sein. Bald schon saßen wir am besten Tisch des Lokals, von dem aus wir den Anblick der alten Bäume und Gebäude draußen genießen konnten, Fußgänger, die ihre Sommergarderobe ausführten, und hin und wieder schoss ein lautes kleines Auto die Straße hinauf oder hinunter. Ich lehnte mich mit einem wonnevollen Seufzer auf meinem Stuhl zurück.
Tante Éva bestellte ganz selbstverständlich für uns alle, und als die ersten Teller kamen, gab es einen starken Schnaps dazu, der pdlinka hieß und, wie Helen mir erklärte, aus
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