Der Historiker
ein Kampf Davids gegen Goliath gewesen, mit weit weniger Erfolg, als er David beschieden war. Andererseits beendeten die Anstrengungen der Feudalen quer durch Osteuropa am Ende die osmanische Oberhoheit, befreiten nicht nur die Walachei, sondern auch Ungarn, Griechenland und Bulgarien, um nur ein paar Länder zu nennen, von der osmanischen Oberherrschaft. Alles das hatte mir Helen erfolgreich klar gemacht, und es führte – wenn ich darüber nachdachte – bei mir zu einer gewissen perversen Bewunderung für Dracula. Er musste gewusst haben, dass sein Widerstand gegen die türkischen Heere kurzfristig zum Scheitern verurteilt war, und doch hatte er die meiste Zeit seines Lebens darauf verwandt – wie sein Vater schon –, die Invasoren aus seinem Land zu vertreiben.
›Das war das zweite Mal, dass die Türken in diese Gegend einfielen.‹ Helen nippte an ihrem Kaffee und stellte ihn dann mit einem befriedigten Seufzer ab, als schmecke er ihr hier besser als irgendwo sonst auf der Welt. ›Janos Hunyadi schlug sie 1456 vernichtend vor den Toren Belgrads. Er ist einer unserer großen Helden, zusammen mit König Stephan und König Matthias Corvinus, der die neue Burg errichtete und die Bibliothek, von der ich dir erzählt habe. Wenn du morgen um zwölf in der ganzen Stadt die Glocken läuten hörst, wirst du wissen, dass sie zum Gedächtnis an diesen Jahrhunderte zurückliegenden Sieg Hunyadis über die Türken läuten. Sie läuten immer noch jeden Tag für ihn.‹
›Hunyadi‹, sagte ich nachdenklich. ›Ich glaube, du hast kürzlich schon von ihm gesprochen. Und er schlug die Türken im Jahr 1456?‹
Wir sahen uns an. Jedes Datum, das in Draculas Lebenszeit lag, wirkte wie eine Art Signal zwischen uns. ›Er war zu der Zeit in der Walachei‹, sagte Helen mit leiser Stimme. Ich wusste, dass sie nicht Hunyadi meinte. Wir hatten einen stillschweigenden Pakt, Draculas Namen nicht in der Öffentlichkeit zu nennen.
Tante Éva war zu schlau, um durch unser Schweigen nicht aufmerksam zu werden oder vor einer einfachen Sprachbarriere zurückzuschrecken. ›Hunyadi?‹, fragte sie und fügte noch etwas auf Ungarisch hinzu.
›Meine Tante möchte wissen, ob du ein spezielles Interesse an der Zeit hast, in der Hunyadi lebte‹, erklärte Helen.
Ich war mir nicht sicher, was ich sagen sollte, also antwortete ich, dass ich im Grunde an der gesamten europäischen Geschichte interessiert sei. Meine schwammige Antwort brachte mir einen konzentrierten Blick von Tante Èva ein, fast ein Stirnrunzeln, und ich beeilte mich, sie abzulenken. ›Frage Mrs Orbân doch bitte, ob ich ihr meinerseits ein paar Fragen stellen darf.‹
›Natürlich.‹ Helens Lächeln schien auf meine Frage wie auch meinen Grund dafür zu antworten. Als sie ihrer Tante meinen Wunsch übersetzt hatte, wandte sich mir Mrs Orbân mit einer Art anmutiger Skepsis zu.
›Ich würde gern wissen‹, sagte ich, ›ob das, was wir im Westen über Ungarns gegenwärtigen Liberalismus hören, tatsächlich wahr ist.‹
Diese Frage brachte mir nun auch von Helen einen skeptischen Blick ein, und ich rechnete damit, einen ihrer berühmten Tritte unter dem Tisch zu bekommen, aber ihre Tante nickte bereits und bat sie zu übersetzen. Als Tante Éva verstanden hatte, schenkte sie mir ein nachsichtiges Lächeln, und ihre Antwort klang sanft. ›Wir Ungarn haben immer auf unsere Lebensqualität und unsere Unabhängigkeit Wert gelegt. Deshalb waren die Zeiten osmanischer und österreichischer Herrschaft auch so schwierig für uns. Die wirkliche Regierung Ungarns hat sich immer besonders um die Bedürfnisse des Volkes gekümmert. Als unsere Revolution die Arbeiter von Unterdrückung und Armut befreite, haben wir damit nachdrücklich die uns eigene Art bestätigt, die Dinge in die Hand zu nehmen.‹ Ihr Lächeln vertiefte sich noch, und ich wünschte, besser darin lesen zu können. ›Die kommunistische Partei Ungarns hat sich immer auf der Höhe der Zeit befunden.‹
›Sie haben also das Gefühl, dass Ungarn unter der Regierung Imre Nagys aufblüht?‹ Seit unserer Ankunft in der Stadt hatte ich mich gefragt, welche Veränderungen Ungarns neuer und überraschend liberaler Regierungschef dem Land gebracht hatte, nachdem er den alten Hardliner Rakosi im Jahr zuvor ersetzt hatte, und ob Nagy tatsächlich die öffentliche Unterstützung genoss, von der wir in unseren Zeitungen lasen. Helen übersetzte etwas nervös, dachte ich, aber Tante Évas Lächeln war beständig.
›Wie
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