Der Historiker
Kollege, von dem ich dir erzählt habe. Paul, das ist meine Tante, Éva Orbân.‹
Ich reichte ihr die Hand und versuchte, sie nicht zu sehr anzustarren. Mrs Orbân war eine große, gepflegt aussehende Frau von etwa fünfundfünfzig Jahren. Was mich in ihren Bann zog, war ihre erstaunliche Ähnlichkeit mit Helen. Sie hätten eine ältere und deren weit jüngere Schwester sein können oder Zwillinge, von denen einer durch harte Erfahrungen gealtert war, während die andere sich auf magische Weise ihre frische Jugendlichkeit erhalten hatte. Tante Éva war vielleicht eine Winzigkeit kleiner als Helen, hatte aber deren kräftige, anmutige Haltung. Ihr Gesicht war einst möglicherweise noch hübscher als Helens gewesen, und es war immer noch sehr schön, mit der gleichen geraden langen Nase, den betonten Wangenknochen und den tiefgründigen dunklen Augen. Ihre Haarfarbe verwirrte mich, bis mir bewusst wurde, dass sie niemals natürlich sein konnte. Es war ein sonderbar lilafarbenes Rot, das an den Wurzeln in Weiß überging. Während unserer nachfolgenden Tage in Budapest fiel mir die Farbe noch bei vielen anderen Frauen auf, aber damals, als ich sie zum ersten Mal sah, erstaunte sie mich. Helens Tante trug kleine goldene Ohrringe und einen dunklen Anzug, der wie eine Schwester zu dem von Helen passte, darunter eine rote Bluse.
Als wir uns die Hände reichten, sah mir Tante Éva sehr ernst in die Augen, fast prüfend. Vielleicht suchte sie nach einer Schwäche meines Charakters, vor dem sie ihre Nichte warnen sollte, dachte ich und schalt mich auch schon aus: Warum sollte sie mich für einen möglichen Bewerber halten? Ich sah das feine Netz Falten um ihre Augen und Mundwinkel, die Erinnerung an ein wunderbares Lächeln, das schon einen Moment später auf ihrem Gesicht erschien, als könnte sie es nicht länger unterdrücken. Kein Wunder, dass es dieser Frau gelang, Tagungsprogramme zu erweitern und ohne weiteres Stempel auf Visa zu zaubern. Die Intelligenz, die sie ausstrahlte, fand nur in ihrem Lächeln Konkurrenz. Ihre Zähne waren wie Helens herrlich weiß und ebenmäßig, etwas, das, wie mir bewusst wurde, unter Ungarn nicht unbedingt die Regel war.
›Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen‹, sagte ich. ›Vielen Dank für die Ehre, an dem Kongress teilnehmen zu dürfen.‹
Tante Éva lachte und drückte mir die Hand. Wenn ich sie noch vor einem Moment für ruhig und reserviert gehalten hatte, so hatte ich mich getäuscht; sie setzte an, und ein Schwall Ungarisch ergoss sich über uns, und ich fragte mich, ob ich etwas davon verstehen sollte. Helen kam mir gleich zu Hilfe. ›Meine Tante spricht kein Englisch‹, erklärte sie. ›Auch, wenn sie mehr versteht, als sie zugeben mag. Die Älteren hier haben früher Deutsch gelernt, Russisch und manchmal auch Französisch, aber nur selten Englisch. Ich werde dir alles übersetzen. Schsch…‹ Voller Zuneigung legte sie ihrer Tante eine Hand auf den Arm und fügte einen Hinweis auf Ungarisch hinzu. ›Sie sagt, dass du hier sehr willkommen bist, und hofft, dass es keinerlei Unannehmlichkeiten für dich gibt, denn schließlich hat sie das ganze Büro des Staatssekretärs für Visa-Erteilungen in Aufruhr versetzt, damit du einreisen konntest. Sie erwartet, dass du sie zu deinem Vortrag einlädst, den sie nicht wirklich verstehen wird, aber es geht ihr ums Prinzip. Und du musst ihre Neugier befriedigen, was deine Universität in Amerika angeht, wie du mich kennen gelernt hast, ob ich mich in Amerika anständig benehme und was deine Mutter alles kocht. Später hat sie sicher noch mehr Fragen.‹
Ich sah die beiden verblüfft an. Sie lächelten mir zu, diese großartigen Frauen, und ich sah, wie sich Helens Ironie auf bemerkenswerte Weise im Gesicht ihrer Tante spiegelte. Oder hatte Helen dieses Lächeln von ihrer Tante gelernt? Ganz sicher ließ sich jemand wie Éva Orbân nicht an der Nase herumführen, schließlich hatte sie es, wie ich mir sagte, aus einem kleinen rumänischen Dorf zu einer einflussreichen Position bei der ungarischen Regierung gebracht. ›Ich werde ganz sicher versuchen, die Interessen deiner Tante zu befriedigen‹, sagte ich zu Helen. ›Bitte sage ihr, dass die Spezialität meiner Mutter Hackbraten und Makkaroni mit Käsesoße sind.‹
›Ah, Hackbraten‹, sagte Helen. Die Erklärung für ihre Tante brachte ein zustimmendes Lächeln auf deren Züge. ›Sie bittet dich, deiner Mutter ihre Grüße und Glückwünsche zu dem wohlgeratenen
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