Der Historiker
Aprikosen hergestellt wurde. ›Dazu gibt es jetzt etwas sehr Gutes‹, übersetzte Helen. ›Wir nennen das bortobdgyi palacsinta. Es ist eine Art Pfannkuchen, gefüllt mit Kalbfleisch, ein traditionelles Gericht der Schäfer in den Ebenen Ungarns. Es wird dir gefallen.‹ Das tat es, und mir schmeckte auch alles andere, was darauf folgte: die Fleisch-Gemüse-Gerichte, der Auflauf mit Kartoffeln, Salami und hart gekochten Eiern, die schweren Salate, die grünen Bohnen, das Lamm und das wunderbar goldbraune Brot. Mir war gar nicht bewusst, wie hungrig ich nach unserem langen Reisetag war, und ich sah auch, wie unverschämt Helen und ihre Tante zulangten, mit einem Genuss, den sich keine Amerikanerin so öffentlich zu zeigen getraut hätte.
Dennoch wäre es falsch, den Eindruck zu vermitteln, dass wir einfach nur aßen. Während all die traditionellen Köstlichkeiten in unseren Mägen landeten, erzählte Tante Éva, und Helen übersetzte. Ich warf gelegentlich eine Frage ein, aber die meiste Zeit, wie ich mich erinnere, hatte ich damit zu tun, gleichzeitig Wohlgenüsse und Informationen in mich aufzunehmen. Tante Éva schien sich ganz auf die Tatsache zu konzentrieren, dass ich Historiker war. Vielleicht hatte sie den Verdacht, dass ich mich mit der ungarischen Geschichte dennoch nicht zu gut auskannte, und wollte sichergehen, dass ich sie auf der Tagung nicht in Verlegenheit brachte. Vielleicht war es aber auch nur der Patriotismus der Einwanderin, die sich in ihrer neuen Heimat bestens etabliert hatte. Was immer ihr Motiv sein mochte, sie war eine brillante Rednerin, und fast konnte ich ihr die Sätze von ihrem ausdrucksstarken, lebhaften Gesicht ablesen, bevor Helen sie für mich übersetzte.
So würzte sie, nachdem wir zum Beispiel mit dempdlinka auf die Freundschaft unserer beiden Länder angestoßen hatten, die Schäfer-Palatschinken mit einer Beschreibung von Budapests Ursprüngen. Angefangen hatte alles mit einer römischen Garnison mit dem Namen Aquincum – noch heute fanden sich hier und da steinerne Zeugnisse dieser Zeit –, und Tante Éva malte ein lebendiges Bild, wie Attila und seine Hunnen die Römer im fünften Jahrhundert vertrieben hatten. Die Osmanen waren damit verglichen eher milde Nachzügler, dachte ich. Die Fleisch-Gemüse-Gerichte – eines nannte Helen gulyas und betonte mit festem Blick, dass es sich dabei nicht um Gulasch handele, welches auf Ungarisch anders genannt werde – wurden von einer langen Beschreibung der Landnahme durch die Magyaren beziehungsweise Ungarn im neunten Jahrhundert begleitet. Als der Kartoffel-Salami-Auflauf serviert wurde, malte uns Tante Éva die Krönung von König Stephan I. dem späteren heiligen Istvan, im Jahre 1000 aus. ›Er war ein Heide in Tierfellen‹, übersetzte Helen. ›Aber er wurde der erste ungarische König und machte Ungarn zu einem christlichen Land. Du wirst überall in Budapest auf seinen Namen stoßen.‹
Als ich schließlich glaubte, nicht einen weiteren Bissen mehr herunterzubringen, kamen zwei Kellner mit Tabletts voller Gebäck und Torten, die ebenso gut in einen österreichisch-ungarischen Thronsaal gepasst hätten, alles voller Schokolade und Schlagsahne, dazu gab es Kaffee. ›Eszpresszo‹, erklärte Tante Éva. Irgendwie fand sich auch dafür noch Platz. ›Kaffee hat einen tragischen Platz in der Geschichte Budapests‹, dolmetschte Helen. ›Vor langer Zeit, im Jahr 1541 genau, lud Süleyman L, der vor den Mauern der Stadt lagerte, einen unserer Heerführer, Bâlint Török, zu einem köstlichen Mahl in sein Zelt ein, zu dessen Abschluss Kaffee serviert wurde – der Heerführer war der erste Ungar, der einen Kaffee trank –, und als Török an seiner Tasse nippte, erklärte ihm Süleyman, dass die besten seiner Truppen während des Essens die Burg von Buda eingenommen hätten. Du kannst dir vorstellen, wie bitter dieser Kaffee Bâlint Török schmeckte.‹
Ihr Lächeln war jetzt eher betrübt statt strahlend. Wieder die Osmanen, dachte ich. Wie schlau sie waren und wie grausam, solch eine merkwürdige Mischung aus ästhetischem Feinsinn und barbarischem Verhalten. 1541 hatten sie Istanbul schon fast ein Jahrhundert lang in ihrem Besitz. Die Erinnerung daran führte mir noch einmal ihre anhaltende Stärke vor Augen und den festen Griff, mit dem sie ihre Tentakel nach Europa ausstreckten und erst vor den Toren Wiens Halt machten. Vlad Tepes Kampf gegen sie war genau wie der vieler seiner christlichen feudalen Verbündeten
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