Der Historiker
liebsten geköpft hättest.‹
›Stimmt‹, sagte sie knapp. ›Er ist unerträglich.‹
›Unerträglich, meinst du‹, sagte ich. ›Warum behandelst du ihn so? Er hat dich begrüßt wie eine alte Freundin.‹
›Oh, mit ihm ist nichts wirklich falsch, außer dass er ein Fleisch fressender Geier ist. Ein Vampir, um die Wahrheit zu sagen.‹ Sie brach ab und sah mich mit großen Augen an. ›Ich meine natürlich nicht…‹
›Natürlich nicht‹, sagte ich. ›Ich habe mir seine Eckzähne genau angesehen.‹
›Du bist auch unerträglich‹, sagte sie und zog ihren Arm zurück.
Ich sah sie bedauernd an. ›Ich habe eigentlich nichts dagegen, wenn du meinen Arm hältst‹, sagte ich leichthin, ›aber glaubst du, es ist gut, das vor der ganzen Universität zu tun?‹
Sie stand vor mir und sah mich an, aber ich konnte die Dunkelheit in ihren Augen nicht lesen. ›Mach dir keine Sorgen. Von den Anthropologen war keiner da.‹
›Aber du kanntest viele von den Historikern, und die Menschen reden‹, sagte ich.
›Oh, hier nicht.‹ Sie ließ mich ihr trocken schnaufendes Lachen hören. ›Wir arbeiten hier alle Hand in Hand. Keine Gerüchte, keine Konflikte, nur kameradschaftliche Dialektik. Du wirst es morgen sehen. Es ist wirklich eine Art Utopia.‹
›Helen‹, stöhnte ich. ›Könntest du einmal ernst sein? Ich mache mir nur Sorgen um dich und deinen Ruf hier – deinen politischen Ruf. Schließlich musst du eines Tages hierher zurück und stehst dann all diesen Menschen wieder gegenüber.‹
›Muss ich das?‹ Sie hakte sich wieder bei mir ein, und wir gingen weiter. Ich machte keinerlei Anstalten, mich von ihr zurückzuziehen. Es hätte kaum etwas gegeben, das ich in diesem Moment dem Gefühl vorgezogen hätte, wie sich ihr schwarzer Ärmel an meinem Ellbogen rieb. ›Egal, das war es wert. Ich wollte Géza nur dazu bringen, mit den Zähnen zu knirschen. Seinen Reißzähnen, meine ich.‹
›Nun, danke‹, murmelte ich, traute mich aber nicht, sonst noch etwas zu sagen. Wenn sie vorgehabt hatte, jemanden eifersüchtig zu machen, hatte sie bei mir zweifellos Erfolg gehabt. Plötzlich sah ich sie in Gézas starken Armen. Hatten die beiden ein Verhältnis gehabt, bevor Helen Budapest verließ? Sie würden ein ziemlich beeindruckendes Paar abgeben, dachte ich. Beide sahen so selbstbewusst und gut aus, waren so groß und anmutig, hatten so kräftiges Haar und breite Schultern. Ich fühlte mich plötzlich kümmerlich angelsächsisch, kein Gegner für die Reiter der Steppe. Helens Gesicht verbot mir alle weiteren Fragen, und ich musste mich mit dem schweigenden Gewicht ihres Armes zufrieden geben.
Nur zu bald schon traten wir durch die vergoldeten Türen des Hotels in die ruhige Halle. Kaum dass wir eingetreten waren, stand eine einzelne Person zwischen den schwarz gepolsterten Sesseln und Topfpalmen auf und wartete, dass wir näher kamen. Helen stieß einen kleinen Schrei aus und lief mit ausgestreckten Armen zu ihr hin.
›Èva!‹
39
Ich habe sie nur dreimal getroffen, das zweite und dritte Mal kurz, aber seit der Zeit damals habe ich oft an Helens Tante Éva gedacht. Es gibt Menschen, die einem schon nach kurzer Bekanntschaft weit klarer im Gedächtnis bleiben als andere, die man Tag für Tag über einen langen Zeitraum sieht. Tante Èva gehört ganz sicher zu den Menschen, die mein Gedächtnis und meine Fantasie mir in einem gemeinsamen Komplott über zwanzig Jahre lang in lebhaften Farben erhalten haben. Wie oft habe ich Tante Évas Bild dazu benutzt, Personen in Büchern mit Leben zu erfüllen, oder auch Gestalten der Geschichte. Zum Beispiel sah ich sie gleich vor mir, als ich Madame Merle, die so abgründige angenehme Ränkeschmiedin in Henry James’ Porträt einer jungen Dame, kennen lernte.
Tatsächlich hat mir Tante Èva in meinen Gedanken für so viele außergewöhnliche, feine, subtile Frauen Modell gestanden, dass es mir heute fast schwer fällt, mir ihr eigentliches Selbst wieder vor Augen zu rufen, wie ich sie an jenem frühen Sommerabend im Budapest des Jahres 1954 kennen lernte. Ich erinnere mich gut, wie Helen ihr mit völlig untypischer Zuneigung in die Arme flog und Éva selbst nicht flog, sondern ruhig und ehrwürdig dastand, ihre Nichte umarmte und sie laut vernehmlich auf beide Wangen küsste. Als Helen sich errötet umdrehte, um uns beide einander vorzustellen, sah ich Tränen in den Augen der beiden Frauen glänzen. ›Éva, das ist mein amerikanischer
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