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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Ich glaube, sie war überrascht, aber sie stellte keine Fragen. Anstatt den Weg zum Feld einzuschlagen, ging ich an diesem Morgen direkt in den Wald und vermied dabei die Straße. Ich ging noch an unserem geheimen Platz vorbei, wo ich mit Bartolomeo gelegen hatte, und verabschiedete mich von ihm. Die Kerben der vier Wochen im Baum verblichen bereits. Ich steckte Bartolomeos Ring auf meinen Finger und band mir ein Tuch um den Kopf, wie es die verheirateten Frauen trugen. Die gelb werdenden Blätter und die kühle Luft waren die ersten Vorboten des kommenden Winters. Eine Weile stand ich da, dann machte ich mich auf den Weg ins nächste Dorf.
    Ich erinnere mich nicht mehr an alle Stationen dieser Reise, nur noch daran, wie müde und manchmal schrecklich hungrig ich war. Eine Nacht schlief ich im Haus einer alten Frau, die mir eine gute Suppe gab und sagte, mein Mann solle mich nicht so allein reisen lassen. Ein anderes Mal schlief ich in einer Scheune. Dann nahm mich endlich jemand mit nach Targoviste und von dort jemand anders mit nach Bukarest. Wenn ich konnte, kaufte ich mir Brot, aber ich wusste nicht, wie viel Geld ich für den Zug brauchen würde, und so war ich sehr sparsam. Bukarest war so groß und schön, aber es machte mir Angst, weil es so viele Menschen dort gab. Alle waren gut gekleidet, und viele Männer starrten mich offen auf der Straße an. Ich musste im Bahnhof schlafen. Auch der Zug machte mir Angst, er war ein so großes schwarzes Monstrum. Als ich dann aber in ihm auf einem Platz am Fenster saß, spürte ich, wie mir das Herz etwas leichter wurde. Wir kamen an Bergen, Flüssen und offenen Feldern vorbei, die so anders waren als die transsilvanischen Wälder.
    An der Grenzstation sagte man mir, es sei der neunzehnte September, und ich legte mich zum Schlafen auf eine Bank, bis mich einer der Grenzbeamten in seine Hütte ließ und mir etwas heißen Kaffee gab. Er fragte mich, wo mein Mann sei, und ich antwortete, ich werde ihn in Ungarn treffen. Am nächsten Morgen kam ein Mann in einem schwarzen Anzug und mit einem Hut und suchte nach mir. Er hatte ein sehr freundliches Gesicht, küsste mich auf beide Wangen und nannte mich Schwester. Ich habe meinen Schwager von jenem ersten Tag an geliebt, bis zum Tag seines Todes, und ich liebe ihn heute noch. Er war mehr mein Bruder als meine wirklichen Brüder daheim in Transsilvanien. Er kümmerte sich um alles, kaufte mir im Zug etwas Warmes zu essen, und wir saßen an einem Tisch mit einem Tischtuch. Während wir aßen, konnten wir aus dem Zugfenster sehen, wie alles an uns vorbeistrich.
    Auf dem Bahnhof in Budapest wartete Éva auf uns. Sie trug ein Kostüm und einen schönen Hut und sah aus wie eine Königin. Sie umarmte und küsste mich immer wieder. Mein Kind kam in einem der besten Krankenhäuser Budapests zur Welt. Ich wollte es Èva nennen, aber Èva sagte, sie würde ihm lieber selbst einen Namen geben und nannte es Elena. Elena war ein so hübsches Baby mit dunklen Augen, und sie lächelte schon sehr früh. Ich hatte gehofft, sie würde Bartolomeos blaue Augen haben, aber sie sah wie alle anderen in meiner Familie aus.
    Ich wartete damit, ihm zu schreiben, bis mein Kind auf der Welt war, weil ich ihm von einem wirklichen Baby berichten wollte und nicht einfach nur von meiner Schwangerschaft. Als Elena einen Monat alt war, bat ich meinen Schwager, mir dabei zu helfen, die Adresse seiner Universität in Oxford herauszufinden, und ich schrieb die merkwürdigen Worte selbst auf den Umschlag. Mein Schwager schrieb den Brief für mich auf Deutsch, und ich unterschrieb ihn eigenhändig. Im Brief berichtete ich Bartolomeo, dass ich drei Monate gewartet und dann das Dorf verlassen hatte, weil ich wusste, dass ich ein Kind bekommen würde, das auch seines war. Ich berichtete ihm von meiner Reise und dem Haus meiner Schwester in Budapest. Ich erzählte ihm von Elena und wie süß sie sei und wie glücklich. Ich sagte, dass ich ihn liebte und große Angst hätte, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sei, das seine Rückkehr unmöglich gemacht habe. Ich fragte, wann ich ihn Wiedersehen würde und ob er nach Budapest kommen könne, um mich und Elena zu holen. Ich sagte, dass ich ihn, was immer auch geschehen mochte, bis an mein Lebensende lieben würde.
    Damit begann eine neue Zeit des Wartens, und sie währte sehr, sehr lange, und erst als Elena schließlich ihre ersten Schritte machte, kam die Antwort von Bartolomeo. Sie kam aus Amerika, nicht aus England, und

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