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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Kerbenschneiden in meinen Baum wartete ich und suchte nach Anzeichen seiner Rückkehr. Wann immer ein Wagen in unser Dorf fuhr, ließ das Geräusch der Räder mein Herz höher schlagen. Dreimal ging ich in jenen Tagen zum Brunnen, hielt Ausschau und hörte auf Neuigkeiten. Ich sagte mir, dass er wahrscheinlich nicht genau nach vier Wochen kommen würde, und ich noch eine weitere warten sollte. Nach der fünften Woche fühlte ich mich krank und war mir sicher, dass der Fürst der pricolici ihn getötet hatte. Einmal kam mir sogar der Gedanke, dass mein Geliebter selbst als Vampir zu mir zurückkommen könnte. Ich rannte am helllichten Tag in die Kirche und betete vor dem Bild der gesegneten Jungfrau, um den schrecklichen Gedanken wieder loszuwerden.
    Während der sechsten und siebten Woche verlor ich die Hoffnung. In der achten Woche begriff ich durch etliche Zeichen, von denen ich von verheirateten Frauen gehört hatte, dass ich ein Kind bekommen würde. Stumm weinte ich mich im Bett meiner Schwestern durch die Nacht und fühlte mich von der ganzen Welt vergessen, selbst von Gott und der heiligen Mutter. Ich wusste nicht, was mit Bartolomeo geschehen war, aber es musste etwas Schreckliches sein, weil ich wusste, dass er mich wirklich liebte. Heimlich suchte ich die Kräuter und Wurzeln, von denen es hieß, sie würden verhindern, dass ein Kind auf die Welt kommt, aber es nützte nichts. Das Kind in mir war stark, stärker als ich, und ohne es zu wollen, begann ich diese Stärke zu lieben. Wenn ich mir heimlich meine Hand auf den Leib legte, spürte ich Bartolomeos Liebe und glaubte, dass er mich nicht vergessen haben konnte.
    Drei Monate waren seit seiner Abreise vergangen, und ich wusste, ich musste das Dorf verlassen, bevor ich Schande über meine Familie brachte und den Zorn meines Vaters auf mich zog. Ich überlegte, ob ich nach der alten Frau suchen sollte, die mir die Münze gegeben hatte. Vielleicht nähme sie mich auf und ließe mich für sie kochen und putzen. Sie war aus einem der Dörfer über dem Arges gekommen, nahe bei der Burg des pricolic, aber ich wusste nicht, welches Dorf es war und ob sie überhaupt noch lebte. Es gab Bären und Wölfe in den Bergen und viele böse Geister, und ich hatte nicht den Mut, allein durch die Wälder zu wandern.
    Endlich entschloss ich mich, meiner Schwester Éva zu schreiben, was ich schon ein- oder zweimal getan hatte. Ich nahm Papier und einen Umschlag aus dem Haus des Priesters, wo ich manchmal in der Küche arbeitete. In dem Brief erklärte ich Èva die Situation und flehte sie an, mich zu sich zu holen. Es dauerte dann noch einmal fünf Wochen, bis ihre Antwort kam. Dem Himmel sei Dank, dass der Bauer, der den Brief zusammen mit ein paar Vorräten zu uns brachte, ihn mir gab und nicht meinem Vater, und ich las ihn heimlich im Wald. Die Mitte meines Leibs wurde langsam rund, so dass es sich komisch anfühlte, als ich mich auf einen Baumstamm setzte, aber ich konnte die Wölbung noch unter der Schürze verbergen.
    Es war etwas Geld in dem Brief, rumänisches Geld, mehr als ich je gesehen hatte, und Évas Notiz war kurz und pragmatisch. Sie sagte, ich solle zu Fuß ins nächste Dorf gehen, das etwa fünf Kilometer entfernt lag, und mich von dort von einem Pferdewagen oder Lastwagen bis nach Targoviste mitnehmen lassen. Von da aus würde ich sicher eine Mitfahrgelegenheit nach Bukarest finden, und von Bukarest solle ich mit dem Zug an die ungarische Grenze fahren. Ihr Mann werde mich am Grenzübergang von T. abholen – am zwanzigsten September, ich erinnere mich noch genau an das Datum. Sie sagte, ich solle meine Reise so einrichten, dass ich an dem Tag dort ankommen könne. Mit im Umschlag stecke eine ordentlich abgestempelte Einladung der ungarischen Regierung, die mir bei der Einreise helfen würde. Sie schickte mir die liebsten Grüße, bat mich, vorsichtig zu sein, und wünschte mir eine sichere Reise. Als ich den Brief gelesen hatte, küsste ich ihre Unterschrift und wünschte ihr von ganzem Herzen allen Segen dieser Welt.
    Ich packte meine wenigen Habseligkeiten in eine kleine Tasche, einschließlich meiner guten Schuhe, die ich auf der Zugreise anziehen wollte, und nahm auch die Briefe mit, die Bartolomeo verloren hatte, und seinen silbernen Ring. Morgens, als ich unsere Hütte verließ, nahm ich meine Mutter, die älter wurde und immer mehr kränkelte, in den Arm und küsste sie. Ich wollte, dass sie später begriff, dass ich mich von ihr verabschiedet hatte.

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