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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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sie, die einen Kopf kleiner war als ich, in die Arme und küsste ihre weiche, faltige Wange. Sie klammerte sich an mich und barg ihr Gesicht an meiner Schulter. Dann wandte sie sich plötzlich ab und verschwand im Haus. Ich dachte, sie wolle mit ihren Gefühlen allein sein, und drehte mich ebenfalls um, aber eine Sekunde später schon war sie zurück. Zu meinem Erstaunen griff sie nach meiner Hand und schloss sie um etwas Kleines, Hartes.
    Als ich meine Hand öffnete, sah ich einen kleinen Ring mit einem winzigen Wappen. Das musste einmal Rossis Ring gewesen sein, den sie ihm durch mich nun zurückgab. Ihr Gesicht leuchtete, und ihre Augen waren von einem glühenden Licht erfüllt. Ich beugte mich zu ihr und küsste sie noch einmal, dieses Mal jedoch auf den Mund. Ihre Lippen waren warm und süß. Als ich sie losließ und mich eilig wieder Helen und meiner Aktentasche zuwandte, sah ich auf dem Gesicht dieser kleinen Frau eine einzelne Träne glitzern. Ich habe gelesen, dass es so etwas wie eine einzelne Träne nicht gibt, dieses alte poetische Bild. Und vielleicht gibt es sie wirklich nicht, weil ihre einfach nur die Gefährtin von meiner war.
     
     
    Sobald wir im Bus saßen, holte ich Rossis Briefe heraus und öffnete vorsichtig den ersten. Während ich ihn hier wiedergebe, will ich Rossis Wunsch nachkommen, die Privatsphäre seines Freundes mit einem nom déplume zu schützen – oder auch einem nom de guerre, wie Rossi es nannte. Es war sehr merkwürdig, Rossis Handschrift auf dem gelblichen Papier wieder vor mir zu sehen – eine jüngere, weniger gedrängte Version von ihr.
    ›Willst du sie gleich hier lesen?‹ Helen, die sich fest an meine Schulter lehnte, sah erstaunt aus.
    ›Wie, kannst du etwa warten?‹
    ›Nein‹, sagte sie.

 
    45
     
     
     
    20. Juni 1930
     
    Mein lieber Freund,
    es gibt in diesem Moment keine Seele auf dieser Welt, zu der ich sprechen könnte, und so halte ich meinen Stift in der Hand und wünsche mir, du wärest hier, gerade du. Du würdest voll mit deinem gewohnten milden Erstaunen über die Szenerie sein, die ich hier in diesem Moment genieße. Ich habe es selbst heute im Zug kaum glauben können – und dir ginge es ähnlich, wenn du sähest, wo ich bin –, wobei das für sich noch kaum ein Hinweis ist. Aber der Zug schnauft Richtung Bukarest. Großer Gott, mein Junge, höre ich dich durch sein Pfeifen hindurch sagen. Aber es stimmt. Ich hatte nicht vorgehabt, hierher zu kommen, aber etwas ziemlich Bemerkenswertes hat mich dann doch hergebracht. Bis vor ein paar Tagen noch war ich in Istanbul, um nach ein paar Dingen zu suchen, die ich bislang für mich behalten habe, und bin dabei auf etwas gestoßen, was in mir den Wunsch geweckt hat, herzufahren. Nein, nicht wirklich den Wunsch; die »Angst« träfe es besser: Ich bin voller Angst, und doch fühle ich mich wie genötigt. Du bist ein solch alter Rationalist, du wirst dich für all dies nicht die Bohne interessieren, aber ich wünschte, ich hätte deinen Grips hier mit auf der Reise. Ich werde jedes Gramm von meinem brauchen, und noch mehr, um zu finden, wonach ich suche.
    Wir werden langsamer und halten in einer Stadt, wo man sich etwas zum Frühstück kaufen kann. Ich lege meinen Stift für den Moment zur Seite und melde mich später wieder.
    Nachmittag, Bukarest
    Ich sitze hier und wollte eigentlich eine Siesta machen, wenn ich nicht so aufgeregt wäre und es in meinem Kopf nicht so schwirrte. Es ist verflucht heiß, und dabei dachte ich, dies wäre ein Land kühler Berge, aber wenn es das tatsächlich ist, habe ich sie noch nicht erreicht. Ein schönes Hotel habe ich erwischt. Bukarest ist so eine Art winziges Paris des Ostens, groß und klein und ein wenig verblichen, alles auf einmal. In der Achtzigern und Neunzigern muss es ein Traum gewesen sein. Ich habe ewig gebraucht, um ein Taxi zu finden und dann ein Hotel, aber meine Gefilde sind ziemlich bequem, und ich kann mich ausruhen und waschen und darüber nachdenken, was ich nun tun soll. Ich bin halb geneigt, hier nicht niederzulegen, was mich im Moment umtreibt, aber wenn ich es nicht tue, werden dich meine Verrücktheiten so verblüffen, dass ich es wohl doch tun muss. Um es kurz und erschreckend zu halten: Ich bin auf einer Art Suche, einer Historikerjagd auf Dracula – nicht den Grafen aus der romantischen Geschichte, die wir alle kennen, nein, den wirklichen Dracula – Drakulya – Vlad III. einen Tyrannen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der in

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