Der Historiker
der Brief war ebenfalls auf Deutsch geschrieben. Mein Schwager übersetzte ihn mir mit sehr sanfter Stimme, aber er war zu ehrlich, um etwas an dem Geschriebenen zu verändern. Bartolomeo schrieb, dass er einen Brief von mir bekommen habe, der ihm von seinem alten Zuhause in Oxford nachgeschickt worden sei. Sehr höflich erklärte er mir, dass er nie von mir gehört oder irgendwo auch nur meinen Namen gesehen habe, und er sei auch nie in Rumänien gewesen, so dass das Kind, von dem ich schrieb, nicht seines sein könne. Es tue ihm sehr Leid, so eine traurige Geschichte zu hören, und er wünsche mir für die Zukunft mehr Glück. Es war ein kurzer und sehr freundlicher Brief, nicht hart, und er enthielt kein Anzeichen dafür, dass er mich kannte.
Ich weinte sehr lange. Ich war jung und verstand nicht, dass sich die Menschen ändern können und ihre Gedanken und Gefühle plötzlich andere sind. Nach einigen Jahren in Ungarn dann begann ich zu begreifen, dass ein Mensch in einem anderen Land eine andere Person sein kann als zu Hause. Ähnlich musste es sich mit Bartolomeo verhalten. Am Ende wünschte ich nur, er hätte nicht gelogen und gesagt, dass er mich gar nicht kennt. Ich wünschte das, weil ich ihn als ehrbaren, wahrhaftigen Menschen erlebt hatte und nicht schlecht über ihn denken wollte.
Mit Hilfe meiner Verwandten zog ich Elena groß, und sie wurde ein schönes, intelligentes Mädchen. Ich weiß, das liegt daran, dass sie Bartolomeos Blut in ihren Adern hat. Ich habe ihr von ihrem Vater erzählt. Ich habe sie nie belogen. Vielleicht habe ich ihr nicht genug erzählt, aber sie war zu jung, um zu verstehen, dass die Liebe die Menschen blind und dumm macht. Sie ging zur Universität, und ich war sehr stolz auf sie, und sie erzählte mir, sie habe gehört, ihr Vater sei ein großer Gelehrter fern in Amerika. Ich hoffte, dass sie ihn eines Tages kennen lernen würde. Aber ich wusste nicht, dass er an der Universität war, die du dort besuchtest, fügte Helens Mutter noch hinzu, wandte sich mit diesen letzten Worten fast vorwurfsvoll ihrer Tochter zu und beendete ihre Geschichte so ziemlich abrupt.
Helen murmelte etwas, das eine Entschuldigung oder Verteidigung hätte sein können, und schüttelte dazu den Kopf. Sie wirkte so überwältigt, wie ich mich fühlte. Die gesamte Erzählung über hatte sie unverwandt dagesessen und kaum atmend übersetzt, nur als ihre Mutter den Drachen auf ihrer Schulter beschrieb, hatte sie ein paar eigene Worte dazu gemurmelt. Später sagte sie mir, dass sich ihre Mutter nie vor ihr ausgezogen habe oder wie Èva mit ihr in die öffentlichen Bäder gegangen sei.
Erst saßen wir schweigend am Tisch, zu dritt, aber dann wandte sich Helen an mich und machte eine hilflose Geste zu dem Bündel Briefe, die vor uns auf dem Tisch lagen. Ich verstand. Auch ich hatte darüber nachgedacht. ›Warum hat sie nicht ein paar dieser Briefe an Rossi geschickt, um zu beweisen, dass er bei ihr in Rumänien war?‹
Sie sah ihre Mutter an – ein heftiges Zögern lag dabei in ihrem Blick, dachte ich – und stellte ihr offenbar diese Frage. Als sie mir die Antwort ihrer Mutter übersetzte, stieg mir ein Kloß in den Hals, wobei der Schmerz, den ich verspürte, teilweise ihr und teilweise auch meinem treulosen Doktorvater galt. ›Ich habe darüber nachgedacht, aber sein Brief sagte mir, dass er ein anderer geworden war. Es hätte nichts geändert, wenn ich ihm die Briefe geschickt hätte; es hätte nur noch weher getan, und ich hätte noch mehr von dem Wenigen verloren, das ich von ihm besaß.‹ Sie streckte die Hand aus, als wollte sie seine Schrift berühren, zog sie aber wieder zurück. ›Mein einziges Bedauern dabei war, ihm nicht zurückzugeben, was ihm tatsächlich gehörte. Aber er hatte so viel von mir behalten, vielleicht war es nicht falsch von mir, dass ich die Briefe nicht hergab?‹ Sie sah von Helen zu mir, und ihre Augen schienen plötzlich nicht mehr so ruhig. Da war kein Aufbegehren, dachte ich, sondern das Aufflackern einer alten, alten Hingabe. Ich sah zur Seite.
Wenn ihre Mutter schon nicht aufbegehrte, dann aber Helen. ›Warum hat sie dann nicht wenigstens mir diese Briefe schon vor langer Zeit gegeben?‹ Ihre Frage war heftig gestellt, und sie richtete sie im nächsten Moment auch an ihre Mutter. Die schüttelte den Kopf. ›Sie sagt‹, berichtete mir Helen mit sich verhärtenden Zügen, ›sie wusste, dass ich meinen Vater hasste, und deshalb habe sie auf jemanden gewartet,
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