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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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was das bedeuten könnte?‹
    ›Nun ja.‹ Stoichevs Augen waren riesig, und er sah mich eindringlich an. ›Wissen Sie‹, sagte er, ›auch ich habe einen von Bruder Kyrills Briefen.‹

 
    56
     
     
     
    Ich erinnerte mich nur zu gut an den Busbahnhof in Perpignan, wo ich im Jahr zuvor mit meinem Vater gestanden und auf den staubigen Bus gewartet hatte, der in die Dörfer hinausfuhr. Wie damals kam der Bus herein, und Barley und ich stiegen ein. Die Fahrt nach Les Bains über breite Landstraßen war mir ebenfalls noch vertraut. Die Orte, durch die wir kamen, waren von eckigen, zurückgestutzten Platanen durchzogen. Bäume, Häuser, Felder, die alten Wagen überall, alles schien aus dem gleichen Staub gemacht, als schwebte eine Café-au-lait- Wolke über uns.
    Das Hotel in Les Bains war auch noch immer so, wie ich es in Erinnerung hatte – vier Stockwerke Stuck mit eisernen Fenstergittern und Blumenkästen voller rosiger Blüten. Ich sehnte mich nach meinem Vater, und der Gedanke, dass ich ihn bald, vielleicht schon in ein paar Minuten, sehen würde, machte mich ganz kurzatmig. Diesmal führte ich Barley, drückte die schwere Tür auf, ging zur Rezeption und stellte meine Tasche vor der Theke mit der schweren Marmorplatte auf den Boden. Aber dann erschien mir die Theke wieder so hoch und Ehrfurcht gebietend, dass ich verlegen wurde und mich dazu zwingen musste, dem eleganten alten Mann, der dahinter stand, zu sagen, ich nähme an, mein Vater sei hier abgestiegen. Ich konnte mich an den alten Mann nicht von unserem letzten Aufenthalt her erinnern, aber er war geduldig und meinte, dass in der Tat ein ausländischer monsieur mit diesem Namen hier wohne, aber der clé, sein Schlüssel, hänge dort, und deshalb könne er selbst im Moment nicht hier sein. Er zeigte auf einen der Haken, an dem ein Schlüssel hing. Mein Herz machte einen Satz, und dann gleich noch einen, als ein Mann, an den ich mich erinnerte, die Tür hinter der Theke öffnete. Es war der maître des kleinen Hotelrestaurants, aufrecht und anmutig und in Eile. Der alte Mann hielt ihn mit einer Frage auf, und er drehte sich zu mir, »étonné«, wie er sofort sagte, und dass die junge Dame hier sei und wie groß sie geworden sei, so erwachsen und hübsch. Und ihr… Freund?
    »Cousin«, sagte Barley.
    Dabei habe der monsieur kein Wort davon gesagt, dass seine Tochter und sein Neffe zu ihm stoßen wollten, was für eine schöne Überraschung. Wir müssten alle zusammen am Abend hier essen. Ich fragte ihn, wo mein Vater sei, ob das jemand wisse, aber niemand tat es. Er habe das Hotel früh verlassen, sagte der alte Mann, vielleicht zu einem Morgenspaziergang. Der maître sagte, sie seien voll belegt, aber wenn wir Zimmer bräuchten, er werde sich darum kümmern. Warum gingen wir nicht erst einmal in das Zimmer meines Vaters hinauf und lüden unser Gepäck ab? Mein Vater habe eine Suite genommen, mit hübschem Ausblick und einem kleinen Wohnzimmer, in dem man sitzen könne. Er, der maître, werde uns jetzt den clé geben und einen Kaffee bereiten. Mein Vater komme sicher bald zurück. Dankbar nahmen wir seine Vorschläge an. Der knarzende Aufzug bewegte sich so langsam nach oben, dass ich mich fragte, ob der maître vielleicht selbst die Kette hinunter in den Keller zog.
    Die Suite meines Vaters war geräumig und freundlich, und ich hätte jeden kleinen Winkel von ihr genossen, hätte es mir nicht ein unangenehmes Gefühl bereitet, dass ich nun schon zum dritten Mal in dieser Woche in seinen Privatbereich einbrach. Schlimmer noch war der plötzliche Anblick seines Koffers, seiner vertrauten Kleidungsstücke überall im Zimmer, des abgegriffenen Lederetuis für seine Rasiersachen und seiner guten Schuhe. Vor ein paar Tagen erst hatte ich diese Sachen zuletzt gesehen, in seinem Zimmer bei Rektor James in Oxford, und ihre Vertrautheit versetzte mir einen Stich.
    Aber das alles wurde von einem anderen Schreck noch überboten. Mein Vater war von Natur aus ein ordentlicher Mensch, jeder Raum, jedes Büro, das er benutzte, für wie kurze Zeit auch immer, war ein Beispiel an Ordnung und Diskretion. Im Unterschied zu vielen Junggesellen, Witwern und divorcés, die ich später noch kennen lernen sollte, sank mein Vater nie in diesen Zustand ab, der allein stehende Männer den Inhalt ihrer Taschen auf Tischen und sonstigen freien Flächen ausleeren und sie ihre Kleider in etlichen Lagen über Stuhllehnen hängen lässt. Nie zuvor hatte ich die Besitztümer meines

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