Der Historiker
Füße abschlugen und die Wunden mit Salz einrieben, bevor die Erbarmungswürdigen starben. Den Rest von uns ließen sie am Leben, aber verjagten uns unter Flüchen und Schlägen. Später vermochten wir die Körper und Gliedmaßen unserer lieben Freunde zu bergen und sie gemeinsam im Kloster Bachkovo christlich zu begraben, deren Mönche viele Tage und Nächte für ihre frommen Seelen beteten.
Nach diesem Geschehen waren wir voller Trauer und Furcht, aber wir setzten unseren Weg fort, nicht viel weiter und ohne Zwischenfall, bis zum Kloster Sveti Georgi. Dort hießen uns die Mönche, obwohl sie alt und nur wenige waren, willkommen und sagten uns, dass der Schatz, den wir suchten, tatsächlich vor einigen Monaten von zwei Pilgern gebracht worden sei, und alles war gut. Wir konnten uns nicht vorstellen, bald schon wieder durch so viele Gefahren nach Dakien aufzubrechen, und so ließen wir uns erst einmal dort nieder. Die Reliquien wurden in Sveti Georgi heimlich in einen Schrein gelegt, und ihr Ruhm unter den Christen brachte manchen Pilger dorthin, und auch sie bewahrten das Schweigen. Für eine Zeit lebten wir in Frieden, und das Kloster wurde mit unseren Kräften stark ausgebaut. Bald jedoch brach eine Seuche in den Dörfern um uns herum aus, obwohl sie zunächst nicht auf das Kloster übergriff. Ich begriff [dass es keine normale Seuche war, sondern]
[An dieser Stelle bricht das Manuskript ab; abgeschnitten oder abgerissen.]
60
Als Stoichev fertig war, saßen Helen und ich ein paar Minuten stumm da. Stoichev selbst hatte dann und wann den Kopf geschüttelt und sich mit einer Hand über das Gesicht gewischt, als wollte er sich von einem Traum befreien. Endlich sagte Helen etwas: ›Es ist dieselbe Reise – sie muss es sein.‹
Stoichev wandte sich ihr zu. ›Ich glaube es auch. Und mit Sicherheit hatten Bruder Kyrills Mönche den Leichnam von Vlad Tepes dabei.‹
›Und es bedeutet, dass sie, abgesehen von den beiden Mönchen, die von den Osmanen ermordet wurden, sicher das bulgarische Kloster erreichten. Sveti Georgi… Wo liegt es?‹
Das war die Frage, die auch mir, neben allen anderen, am meisten auf den Lippen brannte. Stoichev rieb sich die Brauen. ›Wenn ich das nur wüsste‹, murmelte er. ›Niemand weiß es. Es gibt kein Kloster des heiligen Georg in der Gegend von Bachkovo und auch keinen Hinweis darauf, dass es dort je eines gab. Sveti Georgi ist eines von mehreren mittelalterlichen Klöstern in Bulgarien, von denen wir wissen, dass es sie einst gab, die aber während der frühen Jahrhunderte der osmanischen Herrschaft verschwunden sind. Wahrscheinlich wurde es angesteckt, und man hat die Steine für andere Gebäude benutzt oder in der Gegend verstreut.‹ Er sah uns traurig an. ›Wenn die Osmanen Grund hatten, dieses Kloster zu hassen oder zu fürchten, dann wurde es wahrscheinlich völlig zerstört. Mit Sicherheit haben sie nicht erlaubt, es wieder aufzubauen, wie es beim Kloster Rila der Fall war. Es gab eine Zeit, da war ich sehr daran interessiert, den Ort des Klosters Sveti Georgi zu finden.‹ Er schwieg eine Weile. ›Nachdem mein Freund Angelov gestorben war, versuchte ich zunächst, seine Forschungen weiterzuführen. Ich fuhr zum Bachkovski manastir, dem Kloster Bachkovo, sprach mit den Mönchen und befragte die Menschen in der Region, aber niemand wusste etwas von einem Kloster namens Sveti Georgi. Ich habe es auch auf keiner alten Karte gefunden und mich gefragt, ob Stefan der Wanderer Zacharias vielleicht einen falschen Namen angegeben hat. Ich hatte gedacht, dass es zumindest irgendeine Legende oder Überlieferung geben würde, wo doch die Gebeine einer so wichtigen Gestalt wie Vlad Dracula dort begraben waren. Vor dem Krieg wollte ich noch nach Snagov, um zu sehen, ob da etwas herauszufinden war…‹
›Wenn Sie dort gewesen wären, hätten Sie womöglich Rossi getroffen, oder wenigstens den Archäologen Georgescu‹, sagte ich.
›Vielleicht.‹ Er lächelte merkwürdig. ›Wenn Rossi und ich uns dort getroffen hätten, hätten wir das, was wir wussten, vielleicht austauschen können, bevor es zu spät war.‹
Ich überlegte, was er damit meinte – vor der Revolution in Bulgarien?, bevor ich hierher ins Exil geschickt wurde? –, wollte aber nicht fragen. Eine Sekunde später lieferte er von sich aus die Erklärung. ›Wissen Sie, ich habe meine Bemühungen damals recht abrupt abgebrochen. An dem Tag, als ich aus der Gegend von Bachkovo zurückkam, den
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