Der Historiker
dass er mit solcher Ausführlichkeit darauf herumritt, obwohl das, was er sagte, durchaus interessant für mich war. Glücklicherweise blieb ich während seiner Abhandlung ruhig, denn endlich begann Ranov zu gähnen. Nach einer Weile dann stand er auf und ging hinaus, wobei er in der Jacketttasche nach seinem Päckchen Zigaretten grub. Sobald er draußen war, packte Helen wieder meinen Arm. Stoichev sah sie konzentriert an.
›Paul‹, sagte sie, und ihr Gesicht wirkte so seltsam, dass ich ihr den Arm um die Schultern legte, weil ich dachte, ihr könne schwindlig werden. ›Sein Kopf! Verstehst du denn nicht? Dracula ging zurück nach Konstantinopel, um seinen Kopf zurückzubekommen.‹
Stoichev gab einen kleinen erstickten Laut von sich, aber es war zu spät. Ich blickte mich um und sah Bruder Rumens kantiges Gesicht um die Ecke eines Bücherregals starren. Er war leise zurückgekommen, und obwohl er uns jetzt den Rücken zuwandte und etwas in das Regal stellte, war sein Rücken eindeutig ein lauschender Rücken. Gleich darauf verschwand er wieder, und wir saßen schweigend da. Helen und ich sahen einander hilflos an, und ich stand auf, um im Dunkel des Raumes nachzusehen. Der Mann war verschwunden, aber es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis auch jemand anders, Ranov zum Beispiel, von Helens Ausruf hörte. Und was würde Ranov mit dieser Information anstellen?
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Wenige Augenblicke in den Jahren meines Forschens, Schreibens und Erörterns haben mir eine so plötzliche Klarheit verschafft wie der, in dem Helen in der Bibliothek von Rila ihre Vermutung aussprach. Vlad Dracula war wegen seines Kopfs zurück nach Konstantinopel gekommen, oder besser gesagt: Der Abt von Snagov hatte seinen Körper dorthin geschickt, damit er wieder damit vereint wurde. Hatte Dracula das bereits vor seinem Tod von ihm gefordert, da er die Prämie kannte, die auf seinen berühmten Kopf ausgesetzt war, und um die Neigung des Sultans wusste, die Köpfe seiner Feinde öffentlich zur Schau zu stellen? Oder hatte der Abt sich diese Aufgabe selbst gestellt, da er die kopflose Leiche seines möglicherweise gotteslästerlichen – und auch gefährlichen – Gönners nicht in Snagov haben wollte? Ganz sicher war ein Vampir ohne Kopf keine echte Bedrohung, das Bild hatte eher etwas Komisches, aber die Unruhe unter seinen Mönchen mag ausgereicht haben, den Abt davon zu überzeugen, dass es besser war, Dracula andernorts ein christliches Begräbnis zuteil werden zu lassen. Wahrscheinlich vermochte der Abt es nicht auf sich zu nehmen, den Körper des Fürsten endgültig zu zerstören. Und wer wusste schon, was für Versprechungen er Dracula zu dessen Lebzeiten gemacht hatte? Ein Bild trat mir wieder vor Augen: der Topkapi-Palast in Istanbul, wo ich gerade erst einen Morgen im Sonnenschein verbracht hatte, und die Nischen neben dem äußeren Tor, wo die Köpfe der Feinde des Sultans aufgespießt wurden. Der Pfähler endlich selbst gepfählt. Wie viele Menschen wären zusammengekommen, um das Schauspiel zu sehen, diesen Beweis für den Triumph des Sultans? Helen hatte mir einmal erklärt, dass selbst die Einwohner Istanbuls Dracula fürchteten und sich sorgten, dass er sich bis in ihre Stadt vorkämpfen würde. Kein türkisches Heerlager würde je wieder wegen solcher Gedanken zittern müssen, der Sultan hatte endlich auch diese unruhige Gegend unter seine Kontrolle gebracht und einen osmanischen Vasallen auf den Thron der Walachen gesetzt, wie er es seit Jahren schon gewollt hatte. Alles, was jetzt noch vom Pfähler blieb, war eine grausige Trophäe, mit eingeschrumpften Augen und wirrem, blutverklebtem Haar und Schnurrbart.
Unser Begleiter schien über ein ähnliches Bild nachzusinnen. Und sobald wir sicher waren, dass Bruder Rumen sich wirklich nicht mehr in der Nähe befand, sagte Stoichev mit leiser Stimme: ›Ja, das ist gut möglich. Aber wie können die Mönche von Panachrantos Draculas Kopf aus dem Palast des Sultans geholt haben? Er war tatsächlich ein Schatz, so wie Stefan ihn in seiner Erzählung nennt.‹
›Wie haben wir unsere Visa bekommen, um nach Bulgarien einreisen zu können?‹ Helen hob die Brauen. ›Mit backschisch, und zwar einem beträchtlichen. Die Klöster waren nach der Eroberung zwar ziemlich arm, aber einige mögen verborgene Reserven gehabt haben – Goldmünzen, Juwelen –, etwas, womit sich sogar die Wachen des Sultans in Versuchung führen ließen.‹
Ich dachte darüber nach. ›In
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