Der Historiker
sprachen nicht weiter darüber. Wir würden noch so viel Zeit haben, alles zu bereden. Sie war müde. Alle waren wir müde bis auf die Knochen, und wir konnten nicht mal anfangen, den Triumph an diesem Abend gebührend zu würdigen. War die Welt sicherer für uns, weil wir hier alle zusammen waren oder weil er endlich aus ihr verschwunden war? Ich sah einer Zukunft entgegen, wie ich sie mir nie vorgestellt hatte. Helen würde mit uns leben und abends die Kerzen im Esszimmer ausblasen. Sie würde bei meiner Abschlussfeier in der Schule dabei sein, mich am ersten Tag in die Universität begleiten und mir mit dem Hochzeitskleid helfen, wenn ich denn jemals heiraten sollte. Nach dem Abendessen würde sie uns vorn im Wohnzimmer ab und zu etwas vorlesen. Sie kam zurück in die Welt und würde wieder Seminare abhalten, würde mit mir losziehen, um Schuhe und Blusen zu kaufen, und mir dabei den Arm um die Hüfte legen.
Ich konnte damals noch nicht wissen, dass sie uns manchmal auch entschwinden, stundenlang ohne ein Wort bleiben und ihre Narbe befühlen würde; und dass eine auszehrende Krankheit sie uns am Ende ganz nehmen sollte, neun Jahre später – lange bevor wir uns daran gewöhnt hatten, sie wieder bei uns zu haben, wobei wir uns vielleicht auch nie daran gewöhnt hätten und ihrer Frist bei uns nie müde geworden wären. Ich konnte nicht vorhersehen, dass unser letztes Geschenk darin bestehen würde zu wissen, dass sie in Frieden ruhte, wo es doch auch ganz anders hätte kommen können, und dass diese Sicherheit gleichzeitig herzzerreißend und heilsam für uns war. Wenn ich nur etwas von alldem vorausgesehen hätte, hätte ich auch wissen können, dass mein Vater nach ihrer Beerdigung für einen Tag verschwand und mit ihm der kleine Dolch aus dem Schrank in unserem Wohnzimmer, und dass ich ihn nie, nie danach fragen würde.
Dort am Kamin in Les Bains dehnten sich die Jahre, die wir sie bei uns haben würden, noch in endloser Segnung vor uns aus. Sie begannen nur Minuten später, als mein Vater aufstand und mich küsste, Barley mit aufflammender Herzlichkeit die Hand schüttelte und Helen vom Sofa hochzog. »Komm«, sagte er, und sie lehnte sich gegen ihn, ihre Geschichte fürs Erste erzählt, das Gesicht müde und voller Freude. Er fasste ihre Hände. »Komm, wir gehen schlafen.«
Epilog
Vor einigen Jahren bot sich mir eine seltene Gelegenheit, als ich auf einer Tagung in Philadelphia war, einem internationalen Treffen von Historikern, die sämtlich Fachleute für das Mittelalter waren. Ich war nie vorher in Philadelphia gewesen und ganz fasziniert vom Wechselspiel zwischen den Veranstaltungen, in denen es tief in die feudale und klösterliche Vergangenheit ging, und der lebendigen Metropole um uns herum mit ihrer weit jüngeren Geschichte von aufgeklärtem Republikanismus und Revolution. Der Ausblick vom vierzehnten Stock meines Hotels bot eine seltsame Mischung aus Wolkenkratzern und Straßenzügen mit Häusern aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, die wie Spielzeughäuser wirkten.
Während unserer wenigen Freistunden machte ich mich von den endlosen Vorträgen über byzantinische Artefakte frei, um im großartigen Kunstmuseum der Stadt ein paar wirkliche Beispiele dafür zu bewundern. Dort fiel mir das Flugblatt eines kleinen Literaturmuseums mit einer Bibliothek in die Hände, dessen Namen ich vor Jahren schon von meinem Vater gehört hatte und um dessen Sammlung ich mit gutem Grund wusste. Es war eine ebenso wichtige Anlaufstelle für Dracula-Forscher, deren Zahl nach den ersten Arbeiten meines Vaters natürlich beträchtlich gewachsen war, wie viele der Archive in Europa. Vielleicht konnte ich dort Bram Stokers Notizen zu seinem Dracula einsehen, die aus der British Library stammten, und ein anderes wichtiges mittelalterliches Dokument. Ich konnte der Gelegenheit nicht widerstehen. Mein Vater hatte die Sammlung immer besuchen wollen; wenigstens eine Stunde wollte ich dort im Gedenken an ihn verbringen. Er war vor mehr als zehn Jahren von einer Landmine in Sarajevo getötet worden, als er an der Befriedung einer der schlimmsten europäischen Feuersbrünste seit Jahrzehnten mitwirkte. Fast eine Woche hatte ich nicht davon erfahren. Als mich die Nachricht schließlich erreichte, kapselte ich mich ein Jahr lang von der Außenwelt ab. Immer noch vermisste ich ihn, jeden Tag, manchmal jede Stunde.
So kam es also, dass ich mich in einem kleinen klimatisierten Raum in einem
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