Der Historiker
der braunen Sandsteinhäuser der Stadt aus dem neunzehnten Jahrhundert wiederfand und Dokumente in Händen hielt, die nicht nur die Wirklichkeit des lange Vergangenen atmeten, sondern mich auch an den Nachdruck erinnerten, mit dem mein Vater seiner Arbeit nachgegangen war. Die Fenster gingen auf die Straße hinaus; ich sah auf Platanen, weitere braune Sandsteinhäuser, deren elegante Fassaden ohne moderne Veränderungen und somit völlig unverfälscht waren. An diesem Morgen war nur eine einzige andere Besucherin in der kleinen Bibliothek, eine Italienerin, die minutenlang in ihr Handy flüsterte, bevor sie die handgeschriebenen Tagebücher von jemandem aufschlug und anfing, darin zu lesen. Ich versuchte, mir nicht den Hals nach dem Namen des Autors zu verdrehen, und machte es mir mit meinem Notizbuch und einem leichten Pullover gegen die kühle Luft der Klimaanlage an einem der Tische bequem. Nach einer Weile brachte die Bibliothekarin mir Stokers Papiere und dazu einen kleinen Karton, der mit einem Band zugebunden war.
Stokers Notizen boten eine kurzweilige Zerstreuung. Sie sind ein wunderbares Beispiel wilden Informationshungers. Einige Notizen waren in gedrungener Handschrift geschrieben, einige auf Florpostpapier getippt. Dazwischen lagen Zeitungsausschnitte über mysteriöse Geschehnisse und einzelne Seiten aus seinem persönlichen Kalender. Ich dachte, wie sehr meinem Vater das alles gefallen und wie er über Stokers unschuldiges Herumstochern im Okkulten gelächelt hätte. Nach einer halben Stunde legte ich das Material vorsichtig zur Seite und wandte mich dem Karton zu. Darin lag, ordentlich in einen Umschlag, wahrscheinlich im neunzehnten Jahrhundert eingebunden, ein dünnes Bändchen von vierzig Seiten, die auf fast makelloses Pergament aus dem fünfzehnten Jahrhundert gedruckt waren, ein mittelalterlicher Schatz, ein Wunder beweglicher Lettern. Der Frontispiz war ein Holzschnitt, ein Gesicht, das ich aus meiner langen Arbeit kannte. Seine großen Augen, offen und doch irgendwie hinterhältig, sahen mich eindringlich an, der große, nach unten hängende Schnurrbart, die lange, elegante, aber auch bedrohlich aussehende Nase und die kaum sichtbaren sinnlichen Lippen.
Es war eine Schrift aus Nürnberg, gedruckt im Jahre 1491, und sie berichtete von den Verbrechen des Dracole Waida, seiner Grausamkeit und seinen blutdürstigen Gelagen. Da sie mir so vertraut waren, konnte ich die ersten Zeilen des mittelalterlichen Deutsch entziffern: »Im Jahre unseres Herrn 1456 beging Dracula viele schreckliche und seltsame Taten. « Die Bibliothek hatte eine Übersetzung dazugelegt, und so las ich noch einmal mit Schaudern von einigen der Verbrechen Draculas gegen die Menschlichkeit. Er hatte seine Opfer bei lebendigem Leib geröstet, hatte ihnen die Haut abgezogen, sie bis zum Hals eingegraben und Säuglinge auf den Brüsten ihrer Mütter gepfählt. Mein Vater hatte natürlich viele dieser Schriften studiert, aber diese hätte ihm sicher besonders gefallen, so frisch wirkte sie. Das Pergament war wie neu, in perfektem Zustand, und sah aus, als wäre es gerade erst bedruckt worden. Seine völlige Reinheit störte mich allerdings auch, und so legte ich das Bändchen in den Karton zurück und band ihn wieder zu, wobei ich mich fragte, warum ich die Schrift überhaupt hatte sehen wollen. Ich spürte den arroganten Blick des Holzschnitts auf mir, bis ich das kleine Buch zuschlug.
Ich sammelte meine Sachen zusammen und dankte der netten Bibliothekarin mit dem Gefühl einer beendeten Pilgerfahrt. Sie schien sich über mein Interesse zu freuen, denn die Nürnberger Schrift war eines ihrer Lieblingsstücke der Sammlung, sie hatte bereits einen Aufsatz darüber geschrieben. Wir verabschiedeten uns mit herzlichen Worten und einem Händeschütteln, und ich ging hinunter in den kleinen Museumsladen und von dort hinaus in die warme Luft der Straße mit ihren Autoabgasen und dem Geruch nach Essen, der mir von irgendwoher in die Nase stieg. Der Unterschied zwischen der geruchlosen, reinen Luft im Museum und dem Abgasgestank der Stadt ließ die Eichenholztür hinter mir abweisend, ja wie versiegelt aussehen, so dass es mich besonders wunderte, als ich die Bibliothekarin herauskommen sah. »Ich glaube, das haben Sie vergessen«, rief sie. »Ich bin froh, dass ich Sie noch erwischt habe.« Sie sah mich mit dem befangenen Lächeln von jemandem an, der einem einen Schatz zurückgibt – das brauchen Sie sicher noch –, die Brieftasche,
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