Der Historiker
ich hab’s tatsächlich vergessen.«
Helen schenkte ihm ihr reizendes Lächeln. »Weißt du, dass ich das Buch nie zuvor gesehen hatte? Vampires du Moyen Age?«
»Ein Klassiker«, sagte mein Vater. »Aber sehr selten.«
»Ich glaube, Master James muss es ebenfalls gesehen haben«, sagte Barley langsam. »Wissen Sie, ich habe ihn dort gesehen, gleich nachdem wir Sie bei Ihrer Arbeit überrascht hatten, Sir.« Mein Vater schien verblüfft. »Ja«, sagte Barley. »Ich hatte meinen Regenmantel in der Bibliothek vergessen und bin nach kaum einer Stunde noch mal zurück in die Camera, um ihn zu holen. Da sah ich Master James oben auf der Galerie aus dem Raum kommen, aber er sah mich nicht. Er kam mir fürchterlich besorgt vor und irgendwie aufgebracht. Daran musste ich denken, als ich mich entschied, ihn anzurufen.«
»Du hast Master James angerufen?« Ich war überrascht, aber längst nicht mehr aus der Fassung zu bringen. »Wann? Warum denn das nur?«
»Ich habe ihn aus Paris angerufen, weil ich mich an etwas erinnerte«, sagte Barley und streckte die Beine aus. Ich hätte nicht übel Lust gehabt, zu ihm zu gehen und ihn in den Schwitzkasten zu nehmen – aber nicht vor meinen Eltern. Er sah mich an. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich versuchte, mich an etwas zu erinnern, was Master James betraf, im Zug noch, und als wir nach Paris kamen, fiel es mir wieder ein. Ich hatte einmal einen Brief auf seinem Schreibtisch gesehen, als er ein paar Papiere ablegte, einen Umschlag, um genau zu sein, und mir gefiel die Briefmarke darauf, also sah ich näher hin. Er kam aus der Türkei und war ziemlich alt – deshalb war mir die Briefmarke aufgefallen. Nun, der Brief war laut Stempel zwanzig Jahre alt und kam von einem Professor Bora, und ich dachte, dass ich auch einmal einen großen Schreibtisch wollte, auf dem Briefe aus aller Welt landeten. Der Name Bora blieb mir damals schon im Gedächtnis, für mich klang er irgendwie exotisch. Natürlich habe ich den Brief nicht geöffnet oder gar gelesen«, fügte Barley noch hastig hinzu. »So was hätte ich niemals getan.«
»Natürlich nicht.« Mein Vater schnaubte leicht, aber aus seinen Augen sprach Zuneigung.
»Nun, als wir in Paris aus dem Zug stiegen, sah ich einen alten Mann auf dem Bahnsteig, einen Moslem, nehme ich an. Er trug einen dunkelroten Hut mit langer Quaste und ein langes Gewand, wie ein osmanischer Pascha, und plötzlich erinnerte ich mich an den Brief. Dann kam natürlich gleich die Verbindung mit der Geschichte deines Vaters – du weißt schon, der Name des türkischen Professors…«, Barley schenkte mir einen düsteren Blick. »Also bin ich gleich ans Telefon. Ich begriff, dass Master James in irgendeiner Weise mit dieser Jagd zu tun haben musste.«
»Und wo war ich da?«, fragte ich.
»Auf der Toilette, nehme ich an. Mädchen sind immer auf der Toilette.« Genauso gut hätte er mir einen Kuss zuwerfen können, aber das ging natürlich nicht. »Master James war ziemlich wütend auf mich, doch als ich ihm alles erklärte, sagte er, er werde mir für immer dankbar sein.« Barleys Lippen bebten ein wenig. »Ich traute mich nicht zu fragen, was er vorhatte, aber jetzt wissen wir es.«
»Ja, das tun wir«, sagte mein Vater traurig. »Er muss ebenfalls die Berechnung nach dem alten Buch angestellt haben und darauf gekommen sein, dass es auf die Woche sechzehn Jahre seit Draculas letztem Besuch in Saint-Matthieu waren. Was heißt, dass ihm sicher bewusst war, wohin ich unterwegs war. Wahrscheinlich hat er mich beobachtet, als ich hinüber in die Radcliff Camera zu den seltenen alten Büchern ging – er drängte mich in Oxford mehrmals, ihm zu sagen, was los sei. Er war um meine Gesundheit besorgt und machte sich Gedanken wegen meiner offensichtlichen Bedrückung. Ich wollte ihn aber nicht mit in die Sache hineinziehen, weil ich wusste, wie gefährlich es werden würde.«
Helen nickte. »Ja. Ich glaube, ich war da, kurz bevor er kam. Ich fand das offene Buch, stellte ebenfalls die Berechnung an, und dann hörte ich jemanden auf der Treppe und verschwand nach hinten hinaus. Wie unser Freund begriff ich, dass du nach Saint-Matthieu wolltest, um mich zu finden, und diesen Teufel, und ich machte mich selbst auf den Weg, so schnell ich konnte. Aber ich wusste nicht, welchen Zug du nehmen würdest, und ganz gewiss ahnte ich nicht, dass dir unsere Tochter ebenfalls zu folgen versuchte.«
»Ich habe dich gesehen«, sagte ich verwundert. Sie sah mich an, aber wir
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