Der Historiker
die Schlüssel, eine dünne Halskette.
Ich dankte ihr verblüfft und nahm mein Notizbuch und ein weiteres Buch, das sie mir gab, nickte ihr dankbar zu, und schon war sie wieder in dem alten Gebäude verschwunden, so schnell, wie sie herausgekommen war. Das Notizbuch gehörte eindeutig mir, obwohl ich dachte, ich hätte es vor dem Verlassen der Bibliothek in meine Tasche gesteckt. Das Buch war… Ich kann nicht mehr sagen, für was ich es im ersten Augenblick tatsächlich hielt, nur dass der Einband aus abgeriebenem altem Samt war, sehr altem Samt, und dass es sich vertraut und fremd zugleich in meiner Hand anfühlte. Das Pergament innen hatte nichts von der Frische des Bändchens, das ich eben studiert hatte. Obwohl die Seiten leer waren, roch es nach den Jahrhunderten, während derer man darin herumgeblättert hatte. Das einzelne Bild in der Mitte lag offen in meiner Hand, bevor ich innehalten konnte. Ich schlug das Buch zu, ohne hinzusehen.
Völlig reglos stand ich auf der Straße, während ein Gefühl von Unwirklichkeit von mir Besitz ergriff. Die Autos, die vorbeifuhren, waren so massig wie zuvor, eine Hupe erklang von irgendwoher, und ein Mann mit einem angeleinten Hund versuchte, an mir vorbeizukommen, zwischen mir und einem Ginkgo-Baum hindurch. Ich sah schnell zu den Fenstern des Museums hinauf und dachte an die Bibliothekarin, aber in den Scheiben spiegelten sich nur die Häuser von gegenüber. Kein Spitzenvorhang verschob sich, und auch keine Tür schloss sich leise, als ich mich umblickte. Da war nichts, das nicht stimmte, hier auf dieser Straße.
In meinem Hotelzimmer legte ich das Buch auf den gläsernen Couchtisch und wusch mir Gesicht und Hände. Ich ging ans Fenster und sah hinunter auf die Stadt. Einen Block weiter konnte ich die patrizische Hässlichkeit des Rathauses von Philadelphia mit der Statue des friedensliebenden William Penn sehen. Von hier oben aus waren die Parks grüne Quadrate aus Baumwipfeln. Licht spiegelte sich in den Bürotürmen der Banken. Ganz links von mir erhob sich das Bundesgebäude, auf das einen Monat zuvor ein Bombenanschlag verübt worden war. Ich sah die roten und gelben Kräne, die den Schutt wegräumten, und hörte das Dröhnen des Wiederaufbaus.
Aber nicht diese Szenerie fesselte meinen Blick. Gegen meinen Willen musste ich an eine andere Aussicht denken, die ich bereits einmal gesehen zu haben schien. Ich lehnte mich ans Fenster, spürte den Sommer und fühlte mich trotz der großen Höhe seltsam sicher, als wäre alle Gefahr Teil einer völlig anderen Welt.
Ich stelle mir einen klaren Herbstmorgen im Jahr 1476 vor, einen Morgen, der gerade kühl genug ist, um von der Oberfläche des Sees Nebel aufsteigen zu lassen. Ein Boot läuft vor der Insel auf Grund, unter den Mauern und Kuppeln mit ihren eisernen Kreuzen. Der hölzerne Kiel kratzt über den Fels, und zwei Mönche kommen zwischen den Bäumen hervorgelaufen, um das Boot an Land zu ziehen. Der Mann, der aus ihm steigt, ist allein, und die Füße, die er auf das steinerne Ufer stellt, stecken in eleganten Stiefeln aus rotem Leder, mit scharfen Sporen. Er ist kleiner als die beiden Mönche, scheint sie aber dennoch zu überragen. Er ist in purpurnen und roten Damast gekleidet und trägt einen langen schwarzen Samtumhang, der vor dem breiten Brustkorb mit einer reich verzierten Brosche zusammengehalten wird. Seine Mütze ist kubisch, schwarz mit roten Federn über der Stirn. Seine Hand ist voller Narben und spielt mit dem kurzen Schwert an seinem Gürtel. Seine Augen sind grün, übernatürlich groß und liegen weit auseinander. Mund und Nase wirken umbarmherzig, und das schwarze Haar und der Schnurrbart zeigen grobe weiße Strähnen.
Der Abt ist bereits benachrichtigt und eilt herbei, um den Mann unter den Bäumen zu begrüßen. »Wir sind geehrt, mein Fürst«, sagt er und streckt die Hand aus. Dracula küsst seinen Ring, und der Abt schlägt das Kreuz über ihm. »Gesegnet seist du, mein Sohn«, fügt er hinzu wie in einer spontanen Danksagung. Er weiß, das Erscheinen Draculas grenzt an ein Wunder. Dracula hat wahrscheinlich türkisches Gebiet durchquert, um herzukommen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Schutzherr des Abtes wie von himmlischen Führern geleitet im Kloster auftaucht. Dem Abt ist zugetragen worden, dass der Metropolit in Curtea de Arges Dracula bald schon wieder als Herrscher der Walachei einsetzen wird, und dann wird der Drache ganz ohne Zweifel zumindest die Walachei den Türken
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