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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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jetzt sehr an den Beamten in Istanbul, auch wenn mit Howard Martins Hals, soweit ich das sehen konnte, alles in Ordnung war. Ich hatte gerade mein Zittern bezwungen und Buch und Dokumente aus seiner Hand entgegengenommen, als er wieder das Wort ergriff.
    »Die Karte ist im Übrigen bemerkenswert. «
    »Die Karte?« Ich erstarrte. Mir fiel nur eine Karte ein – drei, genauer gesagt, in unterschiedlich großem Maßstab –, die mit dem hier zu tun hatten, und ich war sicher, diesem Fremden gegenüber kein Wort über ihre Existenz verloren zu haben.
    »Ist die Zeichnung von Ihnen? Sie ist ganz offenbar nicht alt, aber ich hatte Sie nicht für einen Künstler gehalten. Und sicher schon gar nicht für den morbiden Typs, wenn Sie meine Bemerkung entschuldigen wollen.«
    Ich starrte ihn an, unfähig, seine Worte zu entschlüsseln, und voller Furcht, etwas zu verraten, wenn ich ihn fragte, was er meinte. Hatte ich eine meiner Zeichnungen im Buch liegen lassen? Wie unglaublich dumm von mir, wenn es so war. Aber ich war sicher, das Buch sorgfältig nach eingelegten Notizen durchgesehen zu haben, bevor ich es ihm gab.
    »Nun, ich habe sie zurück hinten ins Buch gelegt. Sie ist also noch da«, sagte er seltsam tröstend. »Und nun, Dr. Rossi, kann ich Sie zur Kasse begleiten, wenn Sie wollen, oder ich sorge dafür, dass man Ihnen die Rechnung nach Hause schickt.« Er öffnete mir die Tür, und sein Gesicht verzog sich zu seinem berufsmäßigen Grinsen. Ich war geistesgegenwärtig genug, den Band nicht gleich an Ort und Stelle durchzublättern, und sah jetzt im Licht des Korridors, dass ich mir Martins seltsames Lächeln eingebildet haben musste und vielleicht auch seine Krankheit. Seine Haut wirkte normal, allenfalls ein wenig blass von Jahrzehnten Arbeit zwischen den Seiten der Vergangenheit, nichts sonst. Er stand in der Tür und streckte die Hand zu einem herzlichen Washingtoner Auf Wiedersehen aus, und ich nahm sie und schüttelte sie und murmelte, dass es schön wäre, wenn mir die Rechnung an meine Universitätsadresse geschickt würde.
    Ich stahl mich davon, verließ vorsichtig den Korridor und schließlich diese große rote Burg mit Martins Laboratorien und Kollegen. Endlich wieder an der frischen Luft auf der Mall, spazierte ich über das leuchtend grüne Gras zu einer Bank und setzte mich, wobei ich versuchte, möglichst unbesorgt zu wirken und mich auch so zu fühlen.
    Mit der gewohnt unheilvollen Gefälligkeit öffnete sich das Buch in meiner Hand, und ich suchte vergeblich nach einem losen Blatt, das mich überraschen sollte. Erst beim Zurückblättern fand ich es: eine sehr feine Linie auf Durchschlagpapier, als hätte jemand die dritte und genaueste meiner Karten vor sich liegen gehabt und sämtliche geheimnisvollen Linien für mich kopiert. Die slawischen Ortsnamen waren exakt die, die auch auf meiner Karte standen: Dorf der Schweinediebe, Tal der acht Eichen. Nur in einem Detail stimmte die Zeichnung nicht mit meiner überein. Unter der Bezeichnung »Unheiliges Grab« standen mit der offenbar gleichen Tinte in ordentlichen lateinischen Buchstaben zwei Worte geschrieben. Dort, wo sich das Grab befinden musste, in einem halbmondförmigen Bogen, wie um die klare Zusammengehörigkeit mit dem Ort zu beweisen, stand: »Bartolomeo Rossi«.
    Leser, nennen Sie mich einen Feigling, wenn Sie müssen, aber seitdem halte ich mich von der Sache fern. Ich bin ein junger Professor und lebe in Cambridge, Massachusetts, wo ich lehre, mit meinen neuen Freunden essen gehe und meinen alten Eltern wöchentlich einen Brief schreibe. Ich trage keinen Knoblauch bei mir, keine Kruzifixe, und ich bekreuzige mich auch nicht, wenn ich draußen auf dem Gang Schritte höre. Ich habe einen besseren Schutz: Ich habe aufgehört, an den grässlichen Scheidewegen der Geschichte herumzugraben. Und etwas muss durch meine Ruhe befriedet worden sein, denn mich haben keine weiteren Tragödien mehr ereilt.
    Nun, wenn Sie selbst zu wählen hätten, zwischen geistiger Gesundheit, der Welt, wie sie Ihnen bekannt und vertraut ist, und wahrer Haltlosigkeit: Was würden Sie wählen? Was, meinen Sie, wäre der richtige Weg für einen Wissenschaftler, um den Rest seiner Tage zu verbringen? Hedges, da bin ich mir ganz sicher, würde von mir nicht verlangt haben, mich kopfüber in die Finsternis zu stürzen. Allerdings – wenn Sie all das hier lesen, dann bedeutet das, dass mich das Unglück am Ende doch erreicht hat. Auch Sie müssen wählen. Ich habe Ihnen

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