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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Raum mit Fenster hinter dem Lesesaal, wo die Bibliothekare wundervolle alte Bücher reparierten oder in Neuanschaffungen Karten klebten. Nachdem Mijnher Binnerts gegangen war, war der Lesesaal ruhiger, als ich ihn je erlebt hatte. Gespannt öffnete ich den Band, den er mir gegeben hatte.
    Es war ein außerordentliches Fundstück, wie ich damals dachte. Heute weiß ich, was für eine grundlegende Quelle es für die byzantinische Geschichte des fünfzehnten Jahrhunderts ist – eine Übersetzung von Michael Doukas’ Istoria Turco-Byzantina. Doukas weiß eine ganze Menge über den Konflikt zwischen Vlad Tepes und Mehmed II. zu berichten, und es war am Tisch dort im Lesesaal, wo ich zum ersten Mal die berühmte Beschreibung des Anblicks las, der sich Mehmeds Augen bot, als er im Jahr 1462 in die Walachei einmarschierte und nach Targoviste zog, Vlad Draculas verlassenen Herrschaftssitz. Vor der Stadt, schreibt Doukas, grüßten Mehmed »Tausende und Abertausende Pfähle, die tote Menschen statt Früchte feilboten«. In der Mitte dieses Todesgartens fand Mehmed Draculas pièce-de-résistance: Mehmeds Lieblingsgeneral Hamza, gepfählt wie alle anderen, in einem »dünnen purpurnen Gewand«.
    Ich musste an Sultan Mehmeds Archiv denken, das Rossi einst in Istanbul aufgesucht hatte. Der Fürst der Walachei war ein Dorn im Fleische des Sultans gewesen, so viel war klar. Ich dachte, ich sollte etwas über Mehmed lesen, vielleicht gab es Quellen, die sich mit seinem Verhältnis zu Dracula beschäftigten. Ich wusste nicht, wo ich ansetzen sollte, aber Mijnher Binnerts hatte gesagt, er würde bald zurück sein und sich um mich kümmern. Ungeduldig hatte ich mich umgedreht und wollte schon sehen, wo er blieb, als ich aus dem Hinterzimmer ein Geräusch hörte. Es war ein dumpfer Schlag, mehr ein Vibrieren des Bodens als ein tatsächlicher Knall, ähnlich dem Schlag eines Vogels, der ungebremst in ein sauber geputztes Fenster fliegt. Etwas daran ließ mich aufspringen und auf den Schlag, oder was immer es war, zulaufen, und so rannte ich durch den Lesesaal zu Binnerts’ Arbeitsraum hinüber. Durch die Scheibe konnte ich Mijnher Binnerts nicht sehen, was mich einen Moment lang beruhigte, aber als ich die hölzerne Tür öffnete, sah ich ein Bein auf dem Boden liegen, ein Bein in einer grauen Hose, das zu einem verdrehten Körper gehörte, der blaue Pullover schief auf dem Torso, das blassgraue Haar blutgetränkt, das Gesicht – barmherzigerweise nur halb sichtbar – zertrümmert, ein Stück davon hing noch an der Ecke des Tisches. Offenbar war Binnerts ein Buch aus der Hand gefallen, es lag wie er auf dem Boden. An der Wand über dem Tisch war ein verschmierter Blutfleck mit einem deutlichen Handabdruck, wie eine Fingerfarbenmalerei eines Kindes. Ich versuchte so sehr, kein Geräusch von mir zu geben, dass mein Schrei, als er schließlich kam, jemand anders zu gehören schien.
    Ich verbrachte ein paar Tage im Krankenhaus – mein Vater bestand darauf. Der Arzt, der sich um mich kümmerte, war ein alter Freund. Sanft und ernst saß mein Vater auf meiner Bettkante. Als mich der Polizeibeamte zum dritten Mal befragte, stand er mit verschränkten Armen beim Fenster. Nein, ich hatte niemanden in den Lesesaal kommen sehen. Ich hatte ruhig lesend am Tisch gesessen. Ich hatte einen Schlag gehört. Ich hatte den Bibliothekar nicht näher gekannt, aber ich hatte ihn gemocht. Der Beamte versicherte meinem Vater, dass ich unter keinerlei Verdacht stünde. Ich sei einfach nur die einzige Person, die man als so etwas wie einen Zeugen bezeichnen könne. Dabei hatte ich nichts bemerkt, niemand war in den Lesesaal gekommen, da war ich sicher, und Binnerts hatte auch nicht gerufen und geschrien. Er hatte sonst keine Verletzungen; jemand hatte dem armen Mann auf der Ecke des Tisches einfach das Gehirn herausgeschlagen. Das musste erstaunliche Kraft gekostet haben.
    Der Beamte schüttelte verwirrt den Kopf. Der Handabdruck auf der Wand stamme nicht vom Bibliothekar, an seinen Händen sei kein Blut gewesen. Im Übrigen stimme der Abdruck auch nicht mit seinem überein, und es sei sonderbar, die Haut der Finger scheine ungewöhnlich abgenutzt. Mit diesem Abdruck wäre der Täter leicht zu identifizieren – der Beamte wurde meinem Vater gegenüber gesprächig –, nur gebe es ihn in keiner Kartei. Ein schlimmer Fall. Amsterdam sei nicht mehr die Stadt, in der er aufgewachsen war – heute würden die Leute Fahrräder in die Grachten werfen, und was sei

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