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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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mit dem schrecklichen Vorfall mit der Prostituierten im letzten Jahr, der man… Mein Vater brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
    Als der Beamte gegangen war, setzte sich mein Vater wieder zu mir aufs Bett und fragte mich zum ersten Mal, was ich in der Bibliothek gemacht hatte. Ich erklärte ihm, dass ich gearbeitet hätte – dass es mir gefalle, dort nach der Schule meine Hausaufgaben zu machen, denn der Lesesaal sei ruhig und bequem. Ich fürchtete schon, dass er mich fragen würde, warum ich mir gerade die Mittelalter-Abteilung ausgesucht hatte, aber zu meiner Erleichterung verfiel er in Schweigen.
    Ich sagte ihm nicht, dass ich in dem Aufruhr, in den die Bibliothek nach meinem Schrei geriet, instinktiv das Buch in meine Tasche gesteckt hatte, das Mijnher Binnerts in der Hand hielt, als er starb. Die Polizisten hatten natürlich meine Tasche durchsucht, als sie hereinkamen, aber zu dem Buch nichts gesagt. Warum hätte es ihnen auch auffallen sollen? Es war kein Blut dran. Es war ein französisches Buch aus dem neunzehnten Jahrhundert über rumänische Kirchen und hatte aufgeschlagen dagelegen, bei der Seite mit einer Kirche auf der Insel im Snagov-See, die von Vlad III. der Walachei prächtigst ausgestattet worden war. Der Tradition entsprechend war dort vor dem Altar auch sein Grab, laut einem kleinen Text unter einem Plan der Apsis. Der Autor bemerkte, dass die Bewohner der Gegend jedoch ihre eigenen Geschichten dazu hätten. Was für Geschichten?, fragte ich mich, aber mehr stand da nicht über diese spezielle Kirche. Die Zeichnung der Apsis zeigte ebenfalls nichts Ungewöhnliches.
    Mein Vater, der ganz vorsichtig auf dem Rand meines Betts saß, schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du in Zukunft zu Hause arbeitest«, sagte er ruhig. Ich wünschte, er hätte das nicht gesagt. Ich wäre sowieso nie wieder in die Bibliothek gegangen. »Mrs Clay kann für eine Weile bei dir im Zimmer schlafen, wenn du allein Angst hast. Und wir können zum Arzt gehen, wann immer du willst. Sag es mir nur.«
    Ich nickte, obwohl ich dachte, dass ich fast noch lieber allein mit der Beschreibung der Kirche vom Snagov-See sein würde als mit Mrs Clay. Ich erwog die Idee, den Band einfach in unsere Gracht zu werfen – das Schicksal vieler Fahrräder, wie der Polizeibeamte gesagt hatte –, aber ich wusste, dass ich es letztlich wieder bei Tageslicht aufschlagen und lesen wollte. Das wollte ich wohl nicht nur um meinetwillen tun, sondern auch für den großväterlichen Mijnher Binnerts, der jetzt irgendwo in einer städtischen Leichenhalle lag.
    Ein paar Wochen später sagte mein Vater, eine Reise könne meinen Nerven gut tun, und ich wusste gleich, dass er meinte, es sei besser, mich nicht allein zu Hause zu lassen. Die Franzosen, erklärte er, wünschten, mit einem Repräsentanten der Stiftung zu sprechen, bevor sie im kommenden Winter Gespräche in Osteuropa aufnähmen, und so würden wir sie noch ein letztes Mal treffen. Es sei zudem eine gute Gelegenheit, die französische Mittelmeerküste zu besuchen: Die Touristenhorden seien weg, aber die Landschaft längst noch nicht öde. Wir studierten sorgfältig die Karte und freuten uns, dass die Franzosen für das Treffen nicht wie üblich Paris, sondern die Abgeschiedenheit eines Badeortes in der Nähe der spanischen Grenze ausgewählt hatten, unweit einer kleinen Perle namens Collioure, schwärmte mein Vater, und vielleicht ja etwas ähnlich. Nur ein Stück ins Landesinnere hinein lagen Les Bains und Saint-Matthieu-des-Pyrénées-Orientales, aber als ich die Namen nannte, verdüsterte sich die Miene meines Vaters, und er fing an, die Küste nach anderen interessanten Namen abzusuchen.
    Das Frühstück draußen auf der Terrasse vom Le Corbeau, in dem wir wohnten, war so gut, dass ich noch eine Weile in der frischen Luft sitzen blieb, als mein Vater sich mit den anderen Männern in ihren dunklen Anzügen zum Gespräch zurückzog. Widerstrebend holte ich meine Schulbücher heraus und sah immer wieder zum aquamarinblauen Wasser hinüber, das nur ein paar hundert Meter entfernt war. Ich trank meine zweite Tasse bittere chocolat, die mit etwas Zucker und den frischen Brötchen ganz wunderbar schmeckte. Das Sonnenlicht auf den Gesichtern der alten Häuser roch nach Ewigkeit. Das trockene Mittelmeerklima war von einer geradezu übernatürlichen Klarheit, als hätte sich noch nie ein Sturm in diesen Meeresarm hineingetraut. Von meinem Platz aus konnte ich ein paar frühe Segler am

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