Der Historiker
ich die Werke des so erstaunlichen Dr. Rossi im Original lesen konnte. Und natürlich war es auch nicht sonderlich schwer herauszufinden, wo er heute lebt. Ich studierte die Universitätsnamen auf den Umschlägen der Bücher und gelobte, eines Tages dorthin zu gehen. Ich überlegte mir alles ganz genau, knüpfte die richtigen politischen Verbindungen und gab vor, die glorreiche Arbeiterbewegung direkt in England studieren zu wollen. Als es dann so weit war, bekam ich die richtigen Stipendien. In Ungarn erfreuen wir uns heute einiger Freiheit, auch wenn sich alle fragen, wie lange die Sowjets das noch tolerieren werden, ich meine, wenn wir schon von Pfählern sprechen. Jedenfalls, ich ging zuerst für sechs Monate nach London und erhielt dann vor vier Monaten ein Forschungsstipendium für Amerika.«
Sie blies eine graue Rauchwolke aus, und ich sah, wie sie nachdachte, ohne dass sich ihre Augen von meinen lösten. Mir kam der Gedanke, dass diese Helen Rossi angesichts ihres Zynismus wohl eher Gefahr lief, von ihrem kommunistischen Regime verfolgt zu werden als von Dracula. Vielleicht hatte sie sich aber auch ganz in den Westen abgesetzt. Danach würde ich sie später fragen. Später? Und was war aus ihrer Mutter geworden? Und hatte sie das alles womöglich nur erfunden, zu Hause in Ungarn, um vom Ruf eines bekannten westlichen Historikers zu profitieren?
Sie folgte ihren eigenen Gedanken. »Gibt das nicht ein hübsches Bild? Die lang verlorene Tochter entpuppt sich als große Ehre, findet ihren Vater: Es kommt zur glücklichen Umarmung.« Die Bitterkeit in ihrem Lächeln drehte mir den Magen um. »Aber das hatte ich eigentlich nicht vor. Ich bin gekommen, damit er von mir hört, wie durch Zufall – durch meine Publikationen, meine Übungen. Wir werden sehen, ob er sich dann noch vor der Vergangenheit verstecken und mich so einfach wie meine Mutter ignorieren kann. Und was diese Dracula-Geschichte angeht…« Sie deutete mit ihrer Zigarette auf mich. »Meine Mutter – gesegnet sei ihre einfache Seele, dass sie daran gedacht hat – hat mir davon erzählt.«
»Hat Ihnen was erzählt?«, fragte ich schwach.
»Sie hat mir von Rossis speziellem Forschungsobjekt erzählt. Bis zum letzten Sommer, kurz bevor ich nach London aufbrach, hatte ich keine Ahnung davon. Auf diese Weise haben sie sich kennen gelernt. Er fragte im Dorf nach Vampirlegenden, und sie hatte einiges über Vampire in der Gegend von ihrem Vater und seinen Kumpeln gehört – nicht, dass in diesem Kulturkreis ein einzelner Mann ein junges Mädchen in der Öffentlichkeit hätte ansprechen dürfen. Aber ich nehme an, er wusste es nicht besser. Schließlich war er Historiker und nicht Anthropologe. Er war nach Rumänien gekommen, um nach Informationen über Vlad den Pfähler zu suchen, unseren lieben Fürsten Dracula. Und finden Sie es nicht merkwürdig…« – sie beugte sich plötzlich vor und brachte ihr Gesicht ganz nahe an meines, aber nicht fragend oder um Verständnis heischend, sondern voll wilden Grimms – , »denken Sie nicht, dass es absolut unverständlich ist, dass er nicht einen Satz zum Thema veröffentlicht hat? Kein Wort, wie Sie sicher wissen. Warum?, habe ich mich gefragt. Warum sollte ein so berühmter Entdecker historischer Welten – und unschuldiger Frauen, augenscheinlich, denn wer weiß schon, wie viele Töchter-Genies es in der Welt noch von ihm gibt –, warum sollte er nichts zu diesem außergewöhnlichen Thema veröffentlichen?«
»Warum?«, fragte ich und bewegte mich dabei keinen Zentimeter.
»Ich werde es Ihnen erklären: Weil er es für ein großes Finale aufspart. Es ist sein Geheimnis, seine Leidenschaft. Warum sonst sollte ein Forscher schweigen? Aber er wird eine Überraschung erleben.« Aus ihrem schönen Lächeln wurde ein Grinsen, und das gefiel mir nicht. »Sie würden nicht glauben, wie viel ich in diesem einen Jahr, seit ich von seinem kleinen Interesse weiß, zum Thema zusammengetragen habe. Ich habe Professor Rossi zwar nicht kontaktiert, aber doch zumindest dafür gesorgt, dass er erfährt, dass sich noch jemand anders mit Dracula beschäftigt. Was für eine Schande wird es sein, wenn ein anderer vor ihm ein abgeschlossenes Werk zum Thema vorlegt – und dann auch noch jemand mit seinem eigenen Namen. Es ist zu schön. Sehen Sie, ich habe sogar seinen Namen angenommen, als ich herkam – Sie könnten es einen akademischen nom-de-plume nennen. Im Übrigen mögen wir es im Ostblock nicht, wenn Leute von außen
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