Der Historiker
Architektur gelehrt werden und in jedem Fremdenführer zu finden sind. Es war ein wunderbarer, bewegender Ort, und ich sah mich immer wieder um und dachte, wie merkwürdig es doch war, dass gerade hier Geschichten über das Böse aufbewahrt werden sollten. Schließlich führte Stephen mich zu einer Treppe, und wir kletterten auf die Galerie. »Hier drüben.« Er lief auf einen Durchgang zu, der wie in die Bücher-Steilwand geschnitten schien. »Da drinnen gibt es einen kleinen Lesesaal. Ich war zwar erst einmal hier oben, aber ich glaube, da haben sie die Vampirsammlung.«
Der düstere Raum war tatsächlich winzig und still, weit von den Stimmen der Touristen unten entfernt. Erlesene Werke füllten die Regale, die Rücken karamellfarben und brüchig wie alte Knochen. Zwischen ihnen bestätigte ein menschlicher Schädel in einer kleinen vergoldeten Glasvitrine den morbiden Charakter der Sammlung. Der Raum war tatsächlich so klein, dass es in der Mitte nur Platz für einen einzigen Lesetisch gab, gegen den wir beinahe stießen, als wir den Raum betraten. Das bedeutete, dass wir plötzlich von Angesicht zu Angesicht dem Mann gegenüberstanden, der dort saß, die Seiten eines brüchigen Folianten umblätterte und rasch ein paar Notizen auf einem kleinen Block machte. Es war ein blasser, hagerer Mann. Seine Augen waren dunkle Höhlen, erstaunt und drängend, aber auch voller Konzentration, als er von seiner Arbeit aufsah. Es war mein Vater.
23
In dem Durcheinander von Krankenwagen, Polizei und Zuschauern, sagte mein Vater, in dem der tote Bibliothekar von der Straße vor der Universitätsbibliothek geholt wurde, stand ich einen Moment lang wie erstarrt da. Es war schrecklich, unvorstellbar, dass das Leben dieses Mannes, so unangenehm er auch gewesen sein mochte, hier so plötzlich geendet hatte; aber mein nächster Gedanke galt bereits wieder Helen. Immer mehr Schaulustige drängten sich heran, und ich schob mich zwischen ihnen durch und suchte nach ihr. Ich war unendlich erleichtert, als sie mich zuerst entdeckte und mir von hinten mit ihrer behandschuhten Hand auf die Schulter klopfte. Sie sah blass, aber gefasst aus. Sie hatte sich ihr Tuch fest um den Hals geschlungen, und sein Anblick auf ihrem weichen Hals ließ mich erschaudern. »Ich habe noch etwas gewartet und bin Ihnen dann die Treppe hinuntergefolgt«, sagte sie, und ihre Stimme ging fast im Lärm der Menge unter. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mir zu Hilfe gekommen sind. Der Mann war ja ein Tier. Das war wirklich mutig.«
Ich war überrascht, wie freundlich ihr Gesicht trotz allem aussehen konnte. »Ich denke, die Mutige waren Sie. Und er hat Sie verletzt«, sagte ich leise. Ich versuchte, nicht vor aller Augen auf ihren Hals zu weisen. »Hat er…?«
»Ja«, sagte sie ruhig. Instinktiv waren wir dichter zusammen getreten, damit niemand unserem Gespräch folgen konnte. »Er ging auf mich los und hat mich in den Hals gebissen.« Einen Augenblick lang schienen ihre Lippen zu zittern, als finge sie an zu weinen. »Er hat jedoch nicht viel Blut erwischt – dazu war keine Zeit. Und es tut kaum weh.«
»Aber Sie…« Ich stotterte ungläubig.
»Ich glaube nicht, dass es zu einer Infektion kommt«, sagte sie. »Es hat sehr wenig geblutet, und ich habe die Wunde so gut ich konnte, verschlossen.«
»Sollen wir in ein Krankenhaus gehen?« Ich bereute meine Worte sofort, nur zum Teil wegen des vernichtenden Blicks, den ich darauf von ihr erhielt. »Oder können wir es selbst irgendwie behandeln?« Ich glaube, ich hatte die vage Vorstellung, wir könnten das Gift aus der Wunde bekommen, wie bei einem Schlangenbiss. Der Schmerz in ihrem Gesicht zog mir das Herz zusammen. Dann fiel mir wieder ein, dass sie die geheime Karte verraten hatte. »Aber warum haben Sie…«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, unterbrach sie mich schnell, und ihr Akzent wurde wieder stärker. »Mir fiel einfach im Moment kein anderer Köder für diese Kreatur ein, und ich wollte sehen, wie er reagierte. Ich hätte ihm natürlich nie die Karte oder andere Informationen gegeben. Das verspreche ich Ihnen.«
Ich musterte sie argwöhnisch. Ihr Gesicht war ernst, der Mund grimmig heruntergezogen. »Nein?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort«, sagte sie. »Im Übrigen« – ein sarkastisches Lächeln überzog ihr Gesicht – »teile ich sowieso nicht so gern, was ich selbst brauchen kann. Sie etwa?«
Ich antwortete nicht darauf, aber da war etwas in ihrem Gesicht, was meine
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