Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
begreifen?«
»Eigentlich nicht«, sagte Holcroft. »Aber ich bin auch nicht so gebaut. Ich werde keine Schuld auf mich nehmen, die nicht die meine ist.«
Kessler sah Noel in die Augen. »Ich behaupte, daß Sie eben das getan haben. Sie sagen, Sie würden nicht vor diesem Ihrem Vertrag weglaufen, und doch sind Ihnen schreckliche Dinge widerfahren.«
Holcroft dachte über die Worte des Wissenschaftlers nach.
»Darin liegt vielleicht eine gewisse Wahrheit, aber die Umstände sind anders. Ich habe nichts verlassen. Ich glaube, man hat mich ausgewählt.«
»Also nicht Teil der Verdammten«, sagte Kessler, »sondern Teil der Auserwählten?«
»Jedenfalls privilegiert.«
Der Wissenschaftler nickte. »Dafür gibt es auch ein Wort. Vielleicht haben Sie schon davon gehört. Sonnenkinder. «
»Sonnenkinder?« Noel runzelte die Stirn. »Wenn ich mich recht entsinne, dann war das in einem von diesen Kursen, in denen ich nicht gerade der Größte war. Anthropologie vielleicht. «
»Oder Philosophie«, schlug Kessler vor. »Das ist ein philosophischer Begriff, den Thomas J. Perry entwickelt hat, im England der zwanziger Jahre, und vor ihm Bachofen in der Schweiz und seine Schüler in München. Wobei die Theorie die ist, daß die Sonnenkinder – die Kinder der Sonne – die ganze Zeit mit uns zusammen waren. Sie sind es, die die Geschichte formen, die Begabtesten unter uns, die Herrscher ganzer Epochen... die Privilegierten. «
Holcroft nickte. »Jetzt erinnere ich mich. Dieses Privileg hat sie zerstört. Sie sind moralisch entartet oder so etwas. Inzestiös, glaube ich.«
»Das ist nur eine Theorie«, sagte Kessler. »Wir schweifen schon wieder ab; man kann sich gut mit Ihnen unterhalten. Sie sprachen von dieser Tochter von Tiebolts, und daß das Leben schwer für sie sei.«
»Für sie alle. Und mehr als schwer. Es ist verrückt. Sie sind die ganze Zeit auf der Flucht. Sie müssen wie Flüchtlinge leben. «
»Leichte Beute für Fanatiker«, pflichtete Erich ihm bei.
»Wie die ODESSA und die RACHE?«
»Ja. Solche Organisationen können in Deutschland selbst nicht tätig werden; man duldet sie nicht. Also operieren sie in anderen Ländern, wohin unzufriedene Emigranten, wie die Verfluchten Kinder, gezogen sind. Sie wollen nur überleben und sich ihre Kraft dafür bewahren, daß sie eines Tages eine Chance bekommen, nach Deutschland zurückzukehren.«
»Zurückzukehren?«
Kessler hob die Hand. »Gebe Gott, daß das nie geschieht, aber das können sie nicht akzeptieren. Die RACHE wollte einmal, daß die Bonner Regierung zu einem Handlanger der Komintern werden sollte, aber selbst Moskau hat sie abgewiesen, und so sind sie heute nichts anderes mehr als Terroristen.
Die ODESSA wollte immer das Nazitum wieder zum Leben erwecken. Man verachtet sie in Deutschland.«
»Aber sie machen immer noch Jagd auf die Kinder«, sagte Noel. »Helden hat den Satz gebraucht >Verdammt für das, was sie waren, und verdammt für das, was sie nicht waren. < «
»Eine gute Definition.«
»Man sollte etwas gegen sie tun. Ein Teil jenes Geldes in Genf sollte dazu benutzt werden, die ODESSA und die RACHE zu zerschlagen.«
»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.«
»Es freut mich, das zu hören«, sagte Holcroft. »Sprechen wir wieder von Genf. «
»Ja, bitte.«
Noel hatte die Ziele des Vertrages dargelegt und die Bedingungen definiert, die von den Erben gefordert wurden. Jetzt war die Zeit gekommen, sich auf das zu konzentrieren, was ihm widerfahren war.
Er begann mit dem Mord im Flugzeug, dem Schrecklichen in New York, dem völlig veränderten Apartment, dem Brief von den Männern der Wolfsschanze, dem Telefonanruf von Peter Baldwin und den brutalen Morden danach. Er sprach von dem Flug nach Rio und einem Mann mit dichten Augenbrauen. Anthony Beaumont, Agent der ODESSA. Er berichtete von den gefälschten Akten in Rios Einwanderungsbüro und dem seltsamen Zusammentreffen mit Maurice Graff. Er schilderte das Auftauchen von MI-5 in London mit der erstaunlichen Nachricht, daß die britische Abwehr der Meinung war, Johann von Tiebolt sei der Meuchelmörder, den sie den Tinamu nannten.
»Den Tinamu?« unterbrach ihn Kessler verblüfft mit gerötetem Gesicht. Das war das erstemal, daß er Holcrofts Bericht unterbrach.
»Ja. Wissen Sie etwas über ihn?«
»Nur das, was ich in Zeitungen gelesen habe. «
»Anscheinend glauben manche Leute, daß er an Dutzenden von Meuchelmorden die Schuld trägt.«
»Und die Briten glauben, es handle
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